Techno-Buch "Der Klang der Familie":Total geflasht in den Verfall

Felix Denk und Sven von Thülen erzählen in ihrem Buch vom Aufstieg und Niedergang der Berliner Techno-Szene, nicht musikgeschichtlich, sondern soziologisch. Die Musik aus der entvölkerten Industriestadt Detroit wurde im grauen, verlorenen Berlin verstanden wie an keinem anderen Ort der Welt. Doch das Ende war vernichtend.

Alexis Waltz

"Die Disko war für uns eine virtuelle Familie, ein Raum, in dem wir eine soziale Architektur gebaut haben. Es war egal, wie du aussahst, was du anhattest, wie viel Kohle du hast." - Der Berliner DJ und Fernsehmoderator Disko berichtet von den Afterhours, die seine Clique im Club 90 Grad 1990 veranstaltet hat. Pop-Phänomene werden meistens mittels der zentralen Künstler und deren Werke dargestellt. Die Sprengkraft von Techno lag darin, die Hierarchie von Produzent und Rezipient aufzuheben.

Techno-Club Berlin Tresor

Tempel der Berliner Techno-Gemeinde: der Club "Tresor".

(Foto: ullstein bild)

Felix Denk und Sven von Thülen lassen in ihrem Bericht vom Aufstieg und Fall der Technoszene in Berlin von Mitte der achtziger bis Mitte der neunziger Jahre Beteiligte aller Art zu Wort kommen. In Anlehnung an Jürgen Teipels "Verschwende deine Jugend" haben sie aus Interviews von siebzig Musikern, Clubmachern und Ravern einen vierhundertseitigen Dialog montiert, der die Techno-Revolution als unwahrscheinliche Begegnung der verschiedensten Subkulturen und Szenen entschlüsselt.

1985 lag der Berliner Szene nichts ferner als Hedonismus und Partytaumel. Im heruntergekommenen Kreuzberg konnte man glauben, ein paar Straßen weiter tobe noch der Zweite Weltkrieg. In den einschlägigen Bars trieben sich Lederjackenpunks und Avantgardekünstler herum, Nick Cave und Blixa Bargeld waren Helden. Deren Postpunk hatte aber bereits an Strahlkraft eingebüßt.

Die so genannte "Berliner Krankheit" lag über der Szene: "Das bezeichnete so einen besonders absurden Punk, so was wie die Tödliche Doris. Es bezeichnete aber auch eine Lebenshaltung. Die bestand im Wesentlichen darin, nichts auf die Reihe zu kriegen. Irgendwo sitzen mit dreckigen Fingernägeln, kein Geld haben und hoffen, dass jemand vorbeikommt, der noch einen Joint hat. Komplette Lethargie."

Auch im Debattier- und Dadaklub Fischbüro spürte man die Hinfälligkeit dieser Szene. So horchte man auf, als der hypnotische, psychedelische Acid House aus Chicago und New York nach Berlin herüberschwappte: "Eine rohe Musik, unfertig, unbeholfen, aber auch soulful und unmittelbar zum Tanzen auffordernd."

Durch ein Loch im Boden in die Freiheit

In einem Keller mit einer Deckenhöhe von zwei Metern eröffnete man kurzerhand das UFO. Dieser Club hat nichts von dem Sex-Appeal der Läden, für die die Musik ursprünglich gemacht war. Wenn man nach Hause kam, war man eingestaubt wie ein Bauarbeiter. Dennoch: "Durch dieses Loch im Boden in den Keller zu krabbeln, hatte etwas sehr Befreiendes von diesem ganzen 80er-Jahre-Muff." Über die Schwulenszene gelangte das erste Ecstasy auf die Partys, das eine friedliche, tolerante, offene Stimmung erzeugte und die Tänzer stundenlang in die Musik eintauchen ließ.

Die Ostberliner Szene war durch die hervorragenden Radiosendungen von Monika Dietl und Barry Graves bestens über die Aktivitäten in Läden wie dem UFO informiert. Auf dem Alexanderplatz lieferten sich Breakdancer Versteckspiele mit der Polizei.

In Läden wie dem Operncafé tanzten Diplomatenkinder mit Schauspielern und Schiebern. Die Stasi vermittelte Prostituierte an syrische Agenten. Man streckte dem DJ eine Kassette mit einem Stück von Grandmaster Flash hin, die eine Tante aus Westdeutschland geschickt hatte.

Dann fiel die Mauer: "Türklinke runter und du warst in einem 1000qm-Laden. Und überall, wo du was aufgemacht hast, konntest du eine Party feiern". Das entvölkerte Ostberlin wurde zu einer Bühne, auf der völlig neue Dimensionen des Feierns erkundet wurden. Die euphorisierten Ostdeutschen stachelten die lethargischen Westberliner an. Die gesichtslosen, spröden Technobeats waren plötzlich die einzige Musik, die in diese aufgegebenen Räume passte.

Gespräche, die ins Nirvana liefen

Die existenziellen Haltungen und künstlerischen Strategien der achtziger Jahre - Distinktion, Ironie, Zynismus - waren hinfällig. Alles, was bisher das Nachtleben bestimmte - Aussehen, Mode, Coolsein - war plötzlich egal. Der Ostberliner DJ und Partymacher Wolle XDP erinnert sich: "Ich kann mich bewegen, wie ich will, weil das in dem Stroboskop-Gewitter kein Schwein sieht und es auch keinen interessiert. Ich war total geflasht und hab wie ein Irrer getanzt."

DJs wie Rok, Tanith, Wolle XDP und Jonzon, Musiker wie 3Phase, Mark Ernestus, Moritz von Oswald und Johnny Klimek entwickelten einen speziellen Berliner Techno-Sound. Der maßgebliche Bezugspunkt dafür war Detroit. In der entvölkerten Industrie-Stadt wurde Techno von einer Handvoll Musiker als futuristischer Masterplan gegen den Niedergang der afroamerikanischen Communities in Armut, Drogen und Gewalt entworfen.

Diese Musik erreichte die anderen amerikanischen Städte aber nicht. Im grauen, verlorenen Berlin wurde sie aber verstanden wie an keinem anderen Ort auf der Welt und von den genannten Musikern zum dominierenden Clubsound ausgearbeitet: "Die Musik hat plötzlich perfekt in die Berliner Abbruchhäuser gepasst. Sie hatte eine wahnsinnig intensive Textur. Auch weil sie sich mit dem allgemeinen Gefühl der Möglichkeit und der Veränderung so vermischt hat. Das hatte eine Brisanz und Dringlichkeit, die man sich nicht ausdenken kann."

Besonders an der Berliner Situation war, dass es keine Infrastruktur gab, die die neue Musik und die neue Art zu feiern "nach den alten Diskotheken-Regeln mit fünf Türstehern, einer Garderobe und Gin Tonic für zehn Mark" auffangen konnte. Kein Dienstleister konnte sich zwischen die Musik und das Publikum stellen. So wurden Clubs, Partys, Plattenlabel und -läden von den Feierfreudigen selbst betrieben.

Die Woche über suchte man nach neuen Tracks, bastelte an einer Dekoration für eine Party, lieh sich eine Anlage zusammen. So koppelten sich ein paar tausend Leute vom bürgerlichen Leben mit Familie, Arbeit und Alltag weitgehend ab: "Man war nach dem Ausgehen nicht allein. Man konnte reden, kuscheln, hatte eine Erleuchtung, die man gegenchecken wollte, führte Gespräche, die ins Nirwana liefen."

Aufhebung des Klassenbewusstseins

"Der Klang der Familie" stellt als überbordende Materialsammlung zum ersten Mal umfassend dar, wie Berlin zur Technostadt wurde. Denk und von Thülen beschreiben Techno nicht musikgeschichtlich, sondern soziologisch. Denn erst Orte und Cliquen verleihen der Musik Gültigkeit.

In der einzigartigen Situation begegneten sich in den einzelnen Läden in immer neuen Konstellationen Westberliner Avantgardekünstler, Ostdeutsche Breakdancer, Schöneberger Schwule, Lichtenberger Hooligans, Britische Soldaten oder Fitnessstudio-gestählte Brandenburger. "Das war das Tolle, man wusste nicht, der ist Maurer und der ist Zahnarzt. Das war die Aufhebung des Klassenbewusstseins."

Der Verfall kam schnell und vernichtend. Die großen Raves näherten sich mit kurzen DJ-Sets und organisierten Busreisen Stadion-Rockkonzerten an. Im Glamourtempel E-Werk wurde das harmonisierende Ecstasy durch Kokain ersetzt. Die Musik zersplitterte sich in die unterschiedlichsten Sub-Stile.

Das Buch reißt mit der Geschichte eines bewaffneten Überfalls in diesem Club jäh ab. Kaum einer der im "Der Klang der Familie" zu Wort kommenden Musiker und Aktivisten hat heute noch eine vergleichbare Funktion in der Szene wie damals.

Oft wurde gefragt, warum Berlin keinen Star DJ wie Hell oder Sven Väth hervorgebracht hat. Die Heterogenität der Szene ließ sich von keinem Repräsentanten erfassen, Starkult passte nicht ins Bild. Marusha: "Ich wollte niemanden glorifizieren, sondern zeigen, dass es jeder machen kann." Im Bezug auf das UFO heißt es: "Der DJ stand einfach so da. Nicht auf einer Bühne. Auf Augenhöhe. Das hatte so was geil Basisdemokratisches."

FELIX DENK, SVEN VON THÜLEN: Der Klang der Familie. Berlin, Techno und die Wende. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 423 Seiten, 14,99 Euro.

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