"Tatort" aus Bremen:Schaurig schön knistert der Norden

Ungeheuerliches gedeiht im Zentrum der Normalität: Nur die "Tatorte" von der Weser können dies ohne Attitüde analysieren.

Harald Hordych

In "Unser Lieben Frauen", der ältesten Kirche Bremens, probt das Ensemble 99 inmitten dunkler Kirchenbänke. Von oben fällt Licht auf den Chor und das Orchester und verleiht der Szenerie etwas Erhabenes. Doch da beginnt der Grund dieser Reise zu wirken: Es geht schließlich auch beim Stadtbummel immer um den Bremer Tatort. Sofort fährt der Blick des Betrachters wie eine Kamera mit unerbittlicher Krimilogik über diese Individuen: Wer sinkt gleich getroffen zu Boden? Wer ist das nächste Opfer? Wann endet die Idylle, weil es in Krimis keine Idylle gibt?

Tatort Bremen ARD

Ohne Attitüde zum Ziel: Manchmal muss es eben Bremen sein.

(Foto: Foto: ARD)

Dann zerfällt das Phantasiegespinst. Bremen feiert ja gerade nicht den spektakulären Mord an spektakulären Schauplätzen. Vor nichts ist man in dieser Kaufmannsstadt so sicher wie vor der Logik der putzigen Schauerlichkeit des Regionalkrimis. Bremen ist im Tatort oft ein Stück Durchschnittsdeutschland. Das liegt bei dieser sich schnell als so lebendig wie gemütlich herausstellenden Stadt auch an einem Mangel spektakulärer Baudenkmäler. Wer diese Stadt nur aus dem Tatort kennt, der weiß nicht viel über sie, außer dass Bremen einen wunderschönen Marktplatz hat und an der Weser liegt.

Dafür weiß man mehr über Deutschland - über bettelarme afrikanische Fußballspieler, die in der Hoffnung auf das große Glück ausgebeutet werden ("Endspiel"). Über Menschen, die sich dem Kampf gegen Handy-Sendemasten verschreiben und die Industrie herausfordern ("Strahlende Zukunft") . Über türkische Familien, die sich äußerlich anpassen und innerlich ihre archaische Hochzeitstradition ohne Rücksicht auf das Lebensglück ihrer Töchter weiterleben. So wie es die Unternehmerfamilie tut, die an diesem Sonntag im Zentrum des neuesten Bremer Tatorts "Familienaufstellung" steht.

Deutsche Realität kritisch abzubilden gehört zum Tatort-Selbstverständnis wie die Augen im Vorspann der Sendung. Nicht immer aber wird diese Aufgabe mit so viel Konzentration auf die Geschichte wie in Bremen angefasst, jenem kleinsten ARD-Sender, den einst man "das linke Radio Bremen" nannte, weil hier oft ungewöhnliche Formate und aufmüpfige Unterhaltung gewagt wurden - Unter deutschen Dächern war so ein Fall. Auch der Bremer Tatort hat etwas mit dieser Tradition zu tun.

Auf vergleichsweise stille Art hat es die Bremer Kommissarin Inga Lürsens nun auf die 20. Folge in mehr als zehn Jahren gebracht. Ob es wirklich Zufall ist, dass die Tatorte Nr. 500 und Nr. 600 beide in Bremen gedreht worden sind? Um diesen klammheimlichen Erfolg zu verstehen, muss man wohl bei der Frau anfangen, mit der auch der Bremer Tatort 1997 erfunden wurde: Sabine Postel ist eine zierliche blonde Frau, der man als Inga Lürsens ansieht, dass nicht jeder unserer Tage dazu geschaffen ist, uns vor Glück tanzen und singen zu lassen. Es kommt vor, dass sich der Blick der Hauptkommissarin auf unheimliche Weise leert, ihr Mund wird dann ein bisschen schief. In diesem Augenblick sieht Inga Lürsens aus, als wachse ihr alles über den Kopf: ihr Leben - vor allem aber wieder mal der aktuelle Fall.

Auch bei "Familienaufstellung" hat Inga Lürsens wieder so geschaut. Eine junge Türkin soll den Mann heiraten, den ihre ältere Schwester nicht nehmen wollte. Als die ermordet wird, steht ihre Familie unter Schock - die Vorbereitungen für die unmittelbar bevorstehende Hochzeit der jüngeren Schwester aber werden deshalb nicht abgebrochen. Da kommen Lürsens und ihr Assistent Stedefreund mal wieder nicht mit, wie schon bei "Scheherazade", als sich Vertuschungsmanöver hinsichtlich der Anschläge des 11. September ausgerechnet in Bremen abzeichneten. Das Ungeheuere, das uns umgibt, braucht wohl als Zentrum der Geschichten aus Bremen eine ganz normale Frau wie Inga Lürsens - und einen Kollegen wie den netten Kommissar Stedefreund. "Nicht Bremen ist Mittelpunkt der Bremer Tatorte, sondern außergewöhnliche Geschichten", sagt RB-Redakteurin Annette Strelow.

Es gab noch kein Drehbuch, da stand fest, dass Sabine Postel die Bremer Tatort-Kommissarin würde. Sie bekam die Rolle auf den Leib geschrieben. "Bodenständig, nüchtern, intelligent" - das sind Inga Lürsens Attribute. Jeder sagt das. Und sie sagt das jetzt auch, als sie im Bremer Parkhotel über ihre Rolle spricht. "Fünfzig Prozent von der eigenen Persönlichkeit stecken immer in einer Rolle", sagt sie. "Sonst wird sie unglaubwürdig."

Sabine Postel ist ein ernsthafter Mensch, der genau zuhört. Als Oliver Mommsen, der den Stedefreund spielt, eine Theorie über den mutigen linken Bremer entwickelt, genügt ein leises "Meinst du wirklich?", um den Kollegen auf dem Sofa nebenan zu stoppen: "Habe ich mich da in was hineingeritten?", fragt Mommsen. Es folgt dieser kurze vielsagende Blick, mit dem auch Lürsens im Tatort Männern klarmacht, dass sie die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen haben. Autorität durch Klugheit, nennt man das wohl.

Nicht nur Inga Lürsens, auch Sabine Postel, 54, die seit dem Tod ihres Mannes allein für ihren Sohn Moritz sorgt, kommt sehr normal und attitüdenlos daher. Es bedarf bei ihr wohl keiner Verwandlungsanstrengung, um diese klar denkende, ohne Mätzchen ihre Meinung sagende Polizistin darzustellen. Das hat sich auch am Abend zuvor gezeigt, als bei der Preview des neuen Tatorts im Bremer Cinemaxx der Programmdirektor ausgerechnet Sabine Postel um eine Einschätzung des gerade gezeigten Tatorts gebeten hatte. Radio Bremen weiß, was es an ihr hat.

Bei dieser spontanen Lobrede hat sich ein Mann im Hintergrund gehalten, der auch sonst die Nummer zwei ist: Oliver Mommsen, 39, ist viel ausgelassener und zappeliger als der ernst-korrekte Stedefreund. "In einer anderen Serie musste ich immer den Sunnyboy geben", sagt er. "Hier kann ich endlich den Straighten spielen." Dann erzählt er, wie Bremen sein gerade erblühendes Tatort-Ego vor acht Jahren am ersten Drehtag in Sekunden normalisierte: Hoch euphorisiert schritt Mommsen zum Drehort. "Tatort!", dachte er."Endlich, das Hollywood des deutschen Fernsehens!" Und dann bog Mommsen um die Ecke. Er sah zwei Bühnenarbeiter die langsam eine Lampe über eine leere Straße schoben. "Mein Gott!, habe ich da gedacht, Tatort ist ja wirklich toll. Aber muss es Bremen sein!"

Solche Geschichten erzählt jemand nur, wenn er ein Happyend nachschieben kann. Postel und Mommsen lieben mittlerweile das Bremer Familienprinzip: "Ohne Ego, ohne Gezicke, ohne Allüren", sagt Mommsen. Postel ergänzt: "Das wirkt sich auch auf die Schauspieler aus. Wer rumzickt, wird sofort auf den Boden der Tatsachen runtergeholt." So feierten sie sich auch im Cinemaxx, eine Truppe, die sich als Underdog nun schon mehr als zehn Jahre im großen ARD-Tatort-Orchester behauptet. "Ohne einzigen Flop!", sagt die Frau, die sogar die Quoten aller Tatorte kennt. Hier funktioniert ein Polizisten-Duo, dessen Darstellern es selbst schwerfällt, ihre Figuren über das Bodenständige hinaus zu charakterisieren. Bei Stedefreund weiß man, dass er mag, was Männer um die 40 mögen, also alles was gerade noch zwischen Arbeit und Sportschau passt: Bier und hübsche Mädchen. Aber darüber hinaus? Im Gegensatz zu Tatort-Gespannen, die ihre Charaktere und privaten Geschichten wie Leuchtreklame vor sich hertragen, landet man bei den beiden am Ende immer bei dem Satz: Die zwei machen einfach ihre Arbeit.

"Wir bewegen uns eher am Seitenrand der Geschichte", nennt Mommsen das. "Es gibt nicht ständig private Anekdoten." Stolz verweisen die beiden auf die außerordentlich gut recherchierten, gesellschaftlich relevanten Geschichten. Wundersamerweise ernüchtert dabei die Bremer Nüchternheit nicht. Beide Figuren erscheinen trotz ihrer Zurückhaltung nicht blass, sie gewinnen durch das, was sie durch ihre Darsteller sind: zwei sympathische Menschen, die ihre Aufgabe in der Polizeiarbeit gefunden haben und dabei ganz nebenbei jede Menge Fehler machen.

Das Bremer Prinzip führt über das Darsteller-Duo Postel/Mommsen zu Drehbuchautoren wie Thea Dorn, die mit "Familienaufstellung" zum zweiten Mal ein Drehbuch für die Bremer verfasst hat. Dorns "Der schwarze Troll", in dem eine psychisch kranke Frau ihre Partner und ihre Kinder zwanghaft umbrachte, ist noch immer der Bremer Quotenknüller.

Nach der Cinemaxx-Aufführung steht Thea Dorn nicht weit weg von dem Schild, das fürs "Tatort-Spezial-Menü" wirbt (kleine Pommes, große Cola, 5 Euro). Sie unterstreicht, dass der ARD-Tatort das letzte kollektive Erlebnis sei, dass unsere Gesellschaft so regelmäßig erreiche. Die Chance, moderne Tragödien zu erzählen, an deren Ende die Fragen nach den Ursachen erst anfangen, werde nicht überall so konsequent wie in Bremen genutzt. Auch im Fall dieses heiklen Stoffs. "Viele Tatort-Redaktionen haben sich lange nicht an dieses Thema gewagt." Sie lobt wie Postel und Mommsen sehr den Mut Annette Strelows und freut sich über "Inga Lürsens Erdigkeit. Sie kann jenen Galgenhumor haben, den man braucht um das Düstere auflockern und ertragen zu können."

Das ist nämlich neu. Sabine Postel darf jetzt auch als Lürsens Galgenhumor zeigen. Als sie und Mommsen dann im Parkhotel ein wenig rumspinnen, wie lustig es doch wäre, wenn es einmal einen Tatort gäbe, bei dem alle Kommissare zu einem Seminar zusammenkämen, stellen sie beide, wie mit einer Stimme, fest: Irgendwann würden ja doch die Worte gezählt, die jeder der Stars sagen dürfte.

Und das verstößt ja wohl klar gegen das Bremer Prinzip.

Tatort - "Familienaufstellung", ARD, Sonntag, 20.15 Uhr

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