Architektur:Mit den Gezeiten

Architektur: Das Ziel ist ein Miteinander zwischen Mensch und Natur: das Aquarium und Meeresforschungszentrum in Mazatlán, das Tatiana Bilbao entworfen hat.

Das Ziel ist ein Miteinander zwischen Mensch und Natur: das Aquarium und Meeresforschungszentrum in Mazatlán, das Tatiana Bilbao entworfen hat.

(Foto: Collage: Tatiana Bilbao Estudio)

Für die Zukunft des Planeten muss auch die Architektur ganzheitlicher arbeiten, da ist Tatiana Bilbao sicher. In Wien präsentiert eine Ausstellung ihre Vorschläge.

Von Laura Weißmüller

Wer plant schon gerne eine Ruine? Wo sich Pflanzen, noch bevor der erste Mensch das Gebäude betreten hat, längst ihr Terrain erobert haben und das Wasser, wenn der Meeresspiegel wieder steigt, Teile des Areals überfluten wird? Tatiana Bilbao offensichtlich. Der Entwurf der mexikanischen Architektin für das neue Aquarium und Meeresforschungszentrum in Mazatlán, einer Stadt direkt am Pazifik, sieht aus wie eine geheimnisvolle Inka-Anlage. Die rötlichen, streng geometrischen Mauern sind überwuchert vom Grün der Pflanzen, von Efeu, Sträuchern und Bäumen, stellenweise tritt das Wasser in die terrassierte Landschaft ein. Wo hier genau die Grenze verläuft zwischen Innen und Außen, zwischen Natur und von Menschen gemacht, ist nicht klar. Soll es auch nicht sein.

Architektur: Das Aquarium und Meeresforschungszentrum in Mazatlán hat Bilbao 2017 entworfen, seit 2019 wird gebaut.

Das Aquarium und Meeresforschungszentrum in Mazatlán hat Bilbao 2017 entworfen, seit 2019 wird gebaut.

(Foto: Collage: Tatiana Bilbao Estudio)

Auch deswegen ist die Architektin für Angelika Fitz, der Direktorin des Architekturzentrums Wien (Az W), Vertreterin einer "jungen neuen Generation": "Bilbao steht für eine neue Haltung in der Architektur", so Fitz, die zusammen mit dem Louisiana Museum of Modern Art in Dänemark der mexikanischen Architektin und ihrem Büro Tatiana Bilbao Estudio im Az W die erste große Einzelausstellung in Europa ausgerichtet hat. Das tue Tatiana Bilbao, weil sie die Frage des Zusammenlebens auf diesem Planeten anders beantworte als die Architektur das im vergangenen Jahrhundert gemeinhin getan hat.

Zum einen ist da der Anspruch der 49-jährigen Architektin, der sich auch im Aquarium ausdrückt: Bilbao will weg von der Sichtweise des Anthropozäns, wo der Mensch meint, alles dominieren und beeinflussen zu dürfen, hin zu einer planetarischen, mehr ganzheitlichen Herangehensweise, bei der stattdessen versucht wird, den Bedürfnissen der Natur genauso Rechnung zu tragen wie denen des Menschen. Weswegen Tatiana Bilbao für den Entwurf des Aquariums auch vor allem mit Umweltforschern zusammengearbeitet hat. Heraus kam dabei so etwas wie ein künstliches Riff im Wasser, das mit den Gezeiten arbeitet statt gegen sie. Wenn die Welt eine Zukunft haben will, in Zeiten der Klimakatastrophe und einer Bauindustrie, die als Mitverursacher Nummer eins gilt, dann dürfte ein solcher ganzheitlicher Ansatz die einzige noch vertretbare Art in der Architektur sein.

Architektur: Die mexikanische Architektin Tatiana Bilbao begann ihre Karriere als Beraterin für das Wohnungsbauministerium in Mexiko-Stadt.

Die mexikanische Architektin Tatiana Bilbao begann ihre Karriere als Beraterin für das Wohnungsbauministerium in Mexiko-Stadt.

(Foto: Ana Hop)

Zum anderen ist da aber auch Tatiana Bilbaos andere Art zu arbeiten, was die Wiener Ausstellung sehr plastisch vor Augen führt: Statt Computer-Renderings gibt es da vor allem farbenfrohe Collagen und Pop-up-Modelle zu sehen, die schon Kindern nachvollziehbar machen, worum es geht. Etwa beim Haus für Alleinerziehende, wo das dreidimensionale Papiermodell aussieht wie ein fröhlicher Setzkasten des Lebens, und das vor allem die Vielfalt unterschiedlicher Familien- und Arbeitsformen in dem Gebäude abzubilden versucht. Bei dem botanischen Garten in Culiacan, für den Bilbao seit 2004 immer wieder Gebäude, Anlagen und Pavillons entwirft, hat die Architektin den Lageplan aus unterschiedlichen getrockneten Blättern zusammengesetzt. Und bei einem Projekt, das als Reaktion auf das verheerende Erdbeben von 2017 in Mexiko entstand, band die Architektin zusammen mit Initiativen vor Ort gleich Kinder ein, damit diese in Kunstworkshops das Erleben des Unglücks, aber auch die Wünsche, die danach entstanden, in Bildern und Zeichnungen festhielten, die wiederum in Bilbaos Entwurf für einen Gemeinschaftsort in einer der betroffenen Gemeinden einflossen und die jetzt in Wien mit ausgestellt sind.

Architektur: Seit 2004 arbeitet Tatiana Bilbao für den botanischen Garten in Culiacan, zum Beispiel entwarf sie den nördlichen Eingang in den Park.

Seit 2004 arbeitet Tatiana Bilbao für den botanischen Garten in Culiacan, zum Beispiel entwarf sie den nördlichen Eingang in den Park.

(Foto: Iwan Baan)

Kinderzeichnungen, Lagepläne aus getrockneten Blättern, comicartige Skizzen - Tatiana Bilbaos Arbeitsweise ist denkbar weit entfernt von der eines allwissenden Architektengotts à la Le Corbusier oder Frank Lloyd Wright, die mit einem Federstrich ganze Städte entwarfen und zu jeder Zeit vorgaben zu wissen, was für alle Bewohner darin gut ist. Dazu passt, dass die mexikanische Architektin lieber mit anderen zusammenarbeitet, als mit ihnen in Konkurrenz zu treten. Das zeigt zum Beispiel ihr Masterplan für einen mexikanischen Pilgerweg. Bilbao lud acht internationale Architekturbüros ein, um auf der 117 Kilometer langen Strecke zwischen Ameca und Talpa de Allende, die jährlich von etwa drei Millionen Pilgern besucht wird, etwas zu entwickeln, Alejandro Aravena und Ai Weiwei entwarfen da zum Beispiel jeweils einen Aussichtspunkt, Luis Aldrete eine Pilgerunterkunft.

Architektur: Sozialer Wohnbau in Acuña, Mexiko, besteht aus insgesamt 16 Wohneinheiten mit je 52 Quadratmetern und einem öffentlichen Raum mit 27 000 Quadratmetern.

Sozialer Wohnbau in Acuña, Mexiko, besteht aus insgesamt 16 Wohneinheiten mit je 52 Quadratmetern und einem öffentlichen Raum mit 27 000 Quadratmetern.

(Foto: Iwan Baan)

Und schließlich ist da Tatiana Bilbaos Interesse am Thema Wohnen. Die Fragen, wie Menschen zusammenwohnen können und was dabei Gemeinschaft generiert, treiben sie ganz offensichtlich um. Das dürfte auch mit ihrer beruflichen Vergangenheit zu tun haben, denn bevor sie 2004 ihr eigenes Büro Tatiana Bilbao Estudio mit heute etwa 60 Mitarbeitern gründete, arbeitete sie als Beraterin für das Wohnungsbauministerium in Mexiko-Stadt. Dazu muss man wissen, dass in Mexiko das Recht auf Wohnen in der Verfassung festgeschrieben ist, weswegen jede Regierung den Auftrag hat, einem jeden ihrer Bürger einen würdigen und angemessenen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Doch was gut klingt, schafft auch Probleme. Denn noch mehr als in Deutschland ist der soziale Wohnungsbau dort in ein starres Konzept aus Vorschriften und Regeln gezwängt. Die "Bereitstellung einer Wohnbox", so Bilbao im Katalog, sei aber "nicht gleichbedeutend mit der Bereitstellung eines Hauses, in dem ein menschenwürdiges Leben möglich ist". Nirgendwo, aber vor allem nicht in einem Land, in dem 60 verschiedene Sprachen gesprochen werden, was einen ersten Hinweis darauf gibt, wie viele unterschiedliche Vorstellungen von Familie, Eigentum und Lebensformen dort vorherrschen. Bilbaos Architektur versucht deswegen, Räume so offen wie möglich zu gestalten, damit die späteren Bewohner sie in ihrem Sinne bespielen können.

Architektur: Das Wohnhaus "Los Terrenos" in Monterrey, Nuevo León, entstand zwischen 2012 und 2016.

Das Wohnhaus "Los Terrenos" in Monterrey, Nuevo León, entstand zwischen 2012 und 2016.

(Foto: Rory Gardiner)

Erstaunlich ist, in welcher Schönheit das der Architektin auch beim sozialen Wohnungsbaus gelingt, wo das Budget in der Regel winzig ist. Im Katalog erklärt sie ihre Wohnhäuser für Wohlhabende in gewisser Weise zur Grundlagenforschung dafür. Mit viel Geld schöne Häuser zu entwerfen, sei sehr einfach, doch: "Wie kann man denselben Effekt erzielen, wenn man nicht viel Geld hat?" Welche Materialien sie einsetze und welche Proportionen sie wähle, oder wie man Dinge platziere und sich durch Räume bewege, all das lerne sie in ihren hochpreisigen Einfamilienhäusern und setze es dann im sozialen Wohnungsbau um. Bilbaos Credo impliziert damit, dass Schönheit allen zusteht, und erinnert an die Forderung Luxus für alle der diesjährigen Pritzker-Preisträger Jean-Philippe Vassal und Anne Lacaton.

Man wünscht sich dieses ehrliche Interesse am staatlichen Wohnungsbau auch bei den Villen und Penthouse bauenden Architekten hierzulande.

Tatiana Bilbao Estudio, Architekturzentrum Wien. Bis 7. Februar 2022. Der englischsprachige Katalog ist bei Lars Müller Publishers erschienen und kostet 45 Euro.

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