Süddeutsche Zeitung

Taschenbücher:Neues im Dezember

Lesezeit: 5 min

Neue Taschenbücher von Betty Smith, Christoph Ransmayr, Quentin Bell, Joost Zwagermann, Jennifer Egan und Winfried Nerdinger.

Von der Literaturredaktion

Frauen im Überlebenskampf

Brooklyn vor dem Ersten Weltkrieg, für viele Einwanderer aus Europa die Endstation ihrer Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Doch die Frauen der weitverzweigten Familie Nolan, von der Betty Smith 1943 in ihrem autobiografischen Roman "Ein Baum wächst in Brooklyn" erzählt, nehmen erfinderisch und zäh den Überlebenskampf auf. Im Mittelpunkt die elfjährige Francie, die, ein Alter Ego der Autorin, die Nachbarschaft und die Verwandten beobachtet - sie erzählt als Chronistin ungewöhnlich direkt und sensibel, mit großer Neugierde auf das Leben. Im Mittelpunkt: die Tragödie der Eltern, denn der liebenswürdige, musikalisch begabt Vater wird immer mehr zum Säufer, überlässt das Arbeiten und den Überlebenskampf der Mutter und den Kindern. Sehr früh ahnt das Mädchen, dass Schreiben und Erzählen - ihre Geschichte endet, als sie 17-jährig Brooklyn verlässt - ihr die Kraft gibt, dem Elend zu entkommen. Sie muss es schaffen, aufs College zu gehen. Ein eindrucksvolles Zeitbild, 1945 von Elia Kazan verfilmt, das in einem anschaulichen Bilderbogen, neben Not und Grausamkeit auch den Familienzusammenhalt zeigt. Roswitha Budeus-Budde

Mit einem Augenaufschlag

Christoph Ransmayr schickt in "Cox" den Automatenbauer Alister Cox - er hat sein reales Vorbild in James Cox - nach China. Dort herrscht im 18. Jahrhundert der gottgleiche Kaiser Qiánlóng. Allgegenwärtig, aber für niemand sichtbar. Cox wurde geholt, um wahrlich fantastische Uhren zu konstruieren. Die "Winduhr" in Form einer Dschunke macht "das wellenförmige Gleiten ... der Lebenszeit eines Kindes" sichtbar, die "Glutuhr" die eines Sterbenden. Höhepunkt seines Schaffens ist der Bau der "Zeitlosen Uhr", die die Dauer der Ewigkeit anzeigen soll. Ransmayr erzählt von der Vergänglichkeit, in einer Prosa von schwebender Schönheit: Schiffe "fliegen dahin", es gibt sogar ein "Schwebebett". Cox trauert um seine Tochter Abigail, deren Tod auch seine Gattin verstummen ließ. Untrennbar damit verbunden ist ein anderes Ransmayr-Thema: das Sehen. Qiánlóng, heißt es, nimmt alles wahr, "selbst bei geschlossenen Augen". Und die mädchenhafte Konkubine An, der das Buch gewidmet ist, wird mit den Worten eingeführt: "Wer solche Augen aufschlagen konnte, der konnte damit erschaffen oder zum Verschwinden bringen, was er sah." Florian Welle

Quentin Bell beschwört Bloomsbury, die Jahre mit Virginia und Leonard Woolf

Ein paar junge Burschen ziehen nach Suffolk, David Garnett und Quentin Bell, auf eine kleine Farm, sie wollen Obst anbauen und durch diese der britischen Volkswirtschaft nützliche Arbeit die Einberufung zum Kriegsdienst vermeiden - es ist das Jahr 1915. Eine Entscheidung auf Leben und Tod, die das Tribunal der Landwirte in Suffolk treffen muss, aber die sind gar nicht beeindruckt, sie "halten Weichfrüchte für frivol". Krieg spielt immer entscheidend mit in den Erinnerungen von Quentin Bell an seine Verwandten und Freunde, die Menschen des legendären Bloomsbury-Kreises. Eine Gruppe Intellektueller, Schriftsteller, Maler, Universitätslehrer, die das vorige britische Jahrhundert prägten, mit exemplarischem bis exzentrischem Potenzial, lauter "Elders and Betters", so der Originaltitel des Buches: die Schwestern Virginia Woolf und Vanessa Bell und ihre Männer, der Maler Duncan Grant, der Ökonom Maynard Keynes, die Frauenrechtlerin Ethel Smyth - sie verknallt sich in Virginia, und das sei, "wie wenn man von einer Riesenkrabbe gefangen wird" -, aber auch in den Fünfzigern die Spione Anthony Blunt oder Kim Philby. Die Beziehungen sind vielfältig, das Geschlecht spielt keine Rolle. Viel ist von Kunst und Kunsttheorie die Rede, aber auch von Politik und Sozialismus. Leonard Woolf, Virginias Mann, riskiert politischen Zoff, als er mit seinem Pinseläffchen Mitz durch Deutschland fährt - das Tier hat Ähnlichkeit mit Goebbels, und "die Staatsgewalt könnte die Ähnlichkeit bemerken und übelnehmen. Wie Goebbels war Mitz gesprächig, er schien sich ständig in einem Zustand bösartiger Wut zu befinden." Leonard muss immer wieder die depressive Virginia vom Selbstmord zurückhalten. Bei der drohenden Invasion haben sie einen Giftvorrat bereit.

Dann "schlug das Schicksal am 28. März 1941 endgültig zu. Virginia brachte sich um." Bloomsbury am Ende? "Natürlich waren wir naiv", erinnert sich Leonard, aber: "Als wir 1900 die Gegenwart erlebten, ohne die Zukunft zu kennen, hatten wir einigen Grund, erregt und in Hochstimmung zu sein." Fritz Göttler

Rothko inkognito

Jelmer Verhooff und Emma Duiker wären im Grunde ein ideales Paar - wäre er nicht als Museumsdirektor verantwortlich für einen einzigartigen Rothko, und wäre sie nicht eine präpotente Konzeptkünstlerin, die eben diesen Rothko mit einem als Konzept kaschierten Bauerntrick entwendet, für eine Art von europaweitem Happening, das "die Kunst demokratisieren" und "Kunst allen zugänglich machen" soll. Erst nach einiger Zeit kommt ihr der Restaurator des Museums auf die Schliche. Da hängt das Bild längst, gewissermaßen inkognito, in einer slowenischen Schule für lernbehinderte Kinder. Jedes darf das gute Stück mal anfassen, und wenn Abdrücke von Schokoladenfingern draufkommen, dann macht das der Hausmeister wieder weg. Ein Schock. Ab hier wird's ein Krimi mit Raub und Erpressung, ehrgeizigen Künstlern, gehackten Mail-Accounts, gedungenen Halunken und schließlich mit der Zerstörung des entwendeten teuren Gemäldes. Wie die ganze Affäre offiziell unterm Teppich gehalten wird, macht diese - bestens eingedeutschte - Groteske aus dem Kunstbetrieb ganz unwahrscheinlich wahr und sehr komisch. Rudolf von Bitter

Kreislauf aus Trauer und Schuld

Phoebe lebt in der Vergangenheit. Sie wuchs im Schatten der Hippie-Bewegung und unter Einfluss ihrer älteren Schwester Faith auf, aber 1967, im "Summer of Love", war sie noch zu jung, um den Freiheitsdrang und die utopischen Luftschlösser, die alle bewegten, zu verstehen. Als ihre Schwester nun unter ungeklärten Umständen auf einer Italienreise stirbt, steht Phoebes Zeit plötzlich still. In ihrem Debütroman "Die Farbe der Erinnerung" aus dem Jahr 1995 spürt die Pulitzerpreisträgerin Jennifer Egan einer ganzen amerikanischen Generation nach. Beinahe beiläufig verwebt sie Vergangenheit und Gegenwart in einen emotionalen Kreislauf aus Trauer und Schuld, fragt nach dem Verhältnis von Erinnerung und Verklärung. "Das Seltsame an dieser Zeit war, dass wir uns schon danach zurückgesehnt haben, während alles passiert ist", erinnert sich ein alter Freund von Faith, als Phoebe sich zehn Jahre später auf ihre Spurensuche begibt. In Europa erfährt sie über die Sicht ihrer Schwester, wie die Ideale der 68er-Generation sich zersetzten, und fängt langsam an, ihrer eigenen Sehnsucht nach der Vergangenheit gewahr zu werden. Sofia Glasl

Wie das Bauhaus zur Institution wurde

Aus der zu erwartenden Flut der Publikationen zum kommenden Bauhaus-Jubiläum wird das von Winfried Nerdinger verfasste Taschenbuch durch seine kompromisslose Sachlichkeit deutlich herausragen. Nerdinger hebt in seinem Abriss der historischen Fakten die teilweise krassen programmatischen Verschiebungen, die sich im Lauf der Jahre durch die personellen Wechsel ergaben, plastisch prägnant hervor. Er zeigt, wie viel die aus ganz unterschiedlichen künstlerischen Milieus berufenen Künstler am Bauhaus von ihren Ideen verwirklichen, wo sie Neues anstoßen konnten, aber auch wo sie scheiterten. Die moderne Legende, dass das Bauhaus, dessen Erbe heute so klar vor uns zu liegen scheint, als Bildungsinstitut nach einem einheitlichen Plan geschaffen und von Künstlern, die weitgehend gleiche Vorstellungen hatten, geprägt worden sei, wird hier also gründlich zerstört. Doch der Rang, den die Schule in der Entwicklungsgeschichte der Moderne einnimmt, wird durch diese Klarstellung nicht beschädigt. Ganz im Gegenteil: Das, was das Bauhaus innerhalb von nur 14 Jahren der Welt hinterlassen hat, erscheint angesichts der waltenden Umstände wie ein Wunder. Gottfried Knapp

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Quelle:
SZ vom 11.12.2018
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