Tarent in Süditalien:Vergiftete Geisterstadt

ILVA steel plants are seen in Taranto late in the night.

Der arme Süden Italiens sollte durch die Industrie erblühen, das war die Idee. Doch das Stahlwerk von Tarent, heute in indischer Hand, hat viele Opfer gefordert.

(Foto: Reuters)

Tarent ist eine fast 3000 Jahre alte Stadt in Süditalien. Ein riesiges Stahlwerk ist dort für einen andauernden Gift-Skandal und den Verfall der Altstadt verantwortlich.

Von Thomas Steinfeld, Tarent

Als am Golf von Tarent in den frühen Sechzigern ein Stahlwerk errichtet wurde, ließ der Auftraggeber, das Staatsunternehmen Italsider, einen Dokumentarfilm drehen. Er beginnt mit einer Planierraupe, die einen Olivenbaum niederwalzt, während im Hintergrund Schafe weiden. "Als Platon und Archimedes noch lebten, gab es diesen Olivenbaum schon", spricht dazu eine herbe Männerstimme. "A morte! Nach zweitausend Jahren von einer infernalischen Kraft gefällt. In den Staub geworfen wie ein Stecken." Die Gewalt wird bewundert, die antike Vergangenheit Tarents als griechische Kolonie beschworen, es folgt die Epiphanie einer Fabrik.

Geschrieben worden war dieser Text von Dino Buzzati, der in jenen Jahren als stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung Corriere della Sera arbeitete, längst aber auch als Schriftsteller berühmt geworden war, vor allem durch seinen Roman "Die Tartarenwüste" ("Il deserto dei Tartari", 1940). Dieses Buch handelt vom Warten. In jenem Film ist es, als hätte die süditalienische Landschaft eine halbe Ewigkeit darauf gewartet, dass in ihr ein gigantisches Stahlwerk errichtet wird. Auf ihre plötzliche Verwandlung scheint sie mit einer seltsamen Mischung aus Grauen und Euphorie zu reagieren.

Die Fabrik, das größte Stahlwerk Europas und eines der größten der Welt, steht immer noch da, auf einer Fläche von mittlerweile etwa fünfzehn Quadratkilometern. Unmittelbar beschäftigt sind dort mindestens 10 000 Menschen, ungefähr doppelt so viele Arbeiter sind für andere Firmen im Stahlwerk tätig, oder sie kümmern sich im Hafen um das Verladen der Rohstoffe oder des Stahls. Diese Fabrik produziert etwa vierzig Prozent des insgesamt in Italien hergestellten Stahls, ungefähr 2,5 Millionen Tonnen werden pro Jahr in andere Länder der Europäischen Union verkauft. Ein stinkender Koloss steht da im äußersten Süden Italiens, dreihundert Kilometer südöstlich von Neapel.

Er steht dort, weil nach dem Zweiten Weltkrieg die Industrialisierung des "Mezzogiorno" befördert werden sollte. Hier gab es einen gut erreichbaren Hafen und eine Arbeiterschaft, die im Dienst für die italienische Kriegsmarine, die in Teilen in Tarent stationiert war (und es immer noch ist), den Umgang mit Eisen und schweren Maschinen gelernt hatte. Tatsächlich wurden die Bürger Tarents zunächst wohlhabender als die anderen Bewohner des Südens, sie besaßen mehr Automobile, mehr Häuser, und die Bevölkerung wuchs auf fast 250 000 Menschen (im Jahr 1981, heute sind es 50 000 weniger).

Die "Cinque Stelle" wollten das Werk eigentlich schließen. Jetzt empfängt man sie als Verräter

Die Fabrik erscheint heute größer denn je. Von der Stadt Tarent ist noch lange nichts zu sehen, wenn das Stahlwerk, "Ilva" mit Namen, am Horizont zu erkennen ist: an Dutzenden von Schornsteinen, vor allem aber an zwei gigantischen Hallen, die derzeit gebaut werden, um die bislang offenen Lager für Eisenerz und Kohle zu überdachen. Fast 80 Meter hoch sind diese Hallen, fast 700 Meter lang, so groß wie fünfzig Fußballfelder, und man sieht sie von überall, von den Olivenhainen an den Hängen der Terra del Gravine, von der offenen See aus wie vom historischen Zentrum Tarents zwischen den "beiden Meeren".

Eine eigene Stadt könnte man unter diesem Dach unterbringen, eine Stadt neben dem Stahlwerk, neben der Arbeitersiedlung Tamburi vor seinen Toren, eine Stadt gegenüber der Altstadt mit der Cattedrale di San Cataldo, dem Dom aus dem 11. Jahrhundert. Die Hallen entstehen, damit der Wind den Staub aus den offenen Lagern nicht mehr über Stadt und Land verwehen kann. Denn bisher sind noch oft die Straßen und die Autos, die Häuser und die Parks von einer roten Schicht überzogen, manchmal bilden sich sogar dichte Wolken. Die Schulen werden an solchen Tagen geschlossen, und den Eltern wird empfohlen, ihre Kinder unter die Dusche zu schicken, wenn sie nach Hause kommen.

Dino Buzzati stammte aus Belluno, aus dem Norden des Veneto, und es fällt schwer, in seinem alle Epochen des Abendlands umgreifenden Pathos nicht die Spuren eines inneren Kolonialismus zu erkennen, mit dem in Süditalien eine Industrie geschaffen worden war, die es ohne das direkte Engagement des Staates nicht gegeben hätte. Einigermaßen rentabel wurde das Unternehmen nur vorübergehend, zu Zeiten des italienischen Wirtschaftswunders, was sich in den Neunzigern in erheblichen Schwierigkeiten niederschlug, es an private Eigner zu verkaufen - und dafür sorgte, dass der Staat hinter den neuen Eigentümern nie ganz verschwand und dann um so deutlicher hervortrat, je komplizierter die ökonomischen Verhältnisse wurden und je höher die Arbeitslosigkeit.

So entstand, wie der Wirtschaftshistoriker Salvatore Romeo in seinem Buch "L'acciaio in fumo" ("Der Stahl im Rauch", Rom 2019) erläutert, ein "populistischer" Widerstand gegen die Fabrik, deren Eigentümer, den Staat und den "Norden", der sich in etlichen kulturellen Initiativen, in Romanen, Theaterstücken und Filmen niederschlägt. Dieser Widerstand weiß indes um die Abhängigkeit der Menschen von der Fabrik, woraus eine besondere Form des empörten Opferdaseins folgt.

Di Maio versprach, das Stahlwerk stillzulegen

Tarent ist außerhalb Italiens kaum bekannt, aber innerhalb des Landes eine finstere Berühmtheit, weil aus den drei Elementen - der fast 3000 Jahre alten Stadt, dem Werk und dem Gift - ein Skandal entstand, der nun schon mindestens dreißig Jahre andauert. Das liegt daran, dass dieses Stahlwerk so groß ist und so wichtig für den italienischen Staat, dass man in Rom glaubt, ohne diese Fabrik nicht bestehen zu können. Das gilt auch nach der Privatisierung des Werks im Jahr 1995 und nach seinem Verkauf im Jahr 2017 an den indischen Konzern Arcelor Mittal, den größten Stahlproduzenten der Welt. Zuletzt hatte, vor der Wahl zum italienischen Parlament im vergangenen Frühjahr, die heute mitregierende Partei "Movimento 5 Stelle" versprochen, das Stahlwerk aus ökologischen Gründen stillzulegen und die Region, angeblich nach dem Muster des Ruhrgebiets, in einen Park der umweltfreundlichen Industrien und der Bildung zu verwandeln.

Die Versprechen wurden nach der Wahl kassiert, weshalb die Bewegung, die in Tarent 54 Prozent der Stimmen erhalten hatte, und ihr Chef, der Arbeitsminister Luigi di Maio, nun als "Verräter" beschimpft werden: Jetzt soll sich das Stahlwerk aus sich selbst heraus erneuern, ökologisch verträglich und ökonomisch erfolgreich. Als Luigi di Maio in der vergangenen Woche Tarent besuchte, erklärte er, man habe nicht nur einen ökologischen Entwicklungsplan beschlossen, sondern auch massive Investitionen in das Gesundheitswesen der Stadt.

Die Einwohner werden sich darüber kaum beruhigen, ist doch ein solches Versprechen auch eine Ratifizierung des längst eingetretenen Unheils: Den Eltern toter Kinder begegnete di Maio mit dem Satz, er selbst komme aus dem "Land der Feuer", also von den brennenden illegalen Müllkippen bei Neapel, was die Empörung in Tarent nicht milderte: Luigi di Maio traf auf kompaktes Misstrauen. Zwar verkündete er, die Regierung in Rom habe ein Dekret aus dem Jahr 2015 zurückgezogen, das der Geschäftsführung des Stahlwerks Straffreiheit bei Anklagen wegen Umweltvergehen zusicherte. Da Arcelor Mittal bei der Übernahme der "Ilva" darauf bestanden hatte, dass die Rechtsgrundlagen des Unternehmens bestehen bleiben, wird diese Zusage so einfach nicht zu erfüllen sein - und so geht es weiter wie bisher.

Zu Tausenden waren die Einwohner Tarents, von Schwefeldioxid, Benzpyren, Dioxinen und etlichen anderen Giften verseucht, in den vergangenen Jahrzehnten an Krebs erkrankt. Tödliche Erkrankungen der Atemwege treten in Tarent bei Männern etwa fünfzig Prozent häufiger auf als in den anderen Teilen Apuliens. Die Zahl der Todesfälle, die sich nachweislich auf Giftstoffe, die aus dem Stahlwerk stammen, zurückführen lassen, liegt derzeit bei einigen Hundert, und jeder weiß, dass solche Gifte ihre Wirkung oft erst nach Jahrzehnten entfalten. Jede Familie in Tarent, heißt es, habe ihre Krebskranken und Krebstoten. Hin- und hergerissen zwischen ökonomischem Zwang und fataler Schädlichkeit, stellt sich die Historie des Stahlwerks dar als unendliche Geschichte aus unterlaufenen Kontrollen und missachteten staatlichen Ultimaten, aus Korruptionsverfahren und vorübergehenden Schließungen, aus staatlichen Dekreten und erstaunlichen Verlängerungen der Betriebserlaubnis. Zwar urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Januar dieses Jahres, der italienische Staat habe das Recht der Bürger Tarents auf körperliche Unversehrtheit verletzt. Doch das Stahlwerk darf offenbar trotzdem nicht untergehen, und wenn die Arbeiter auch wissen, dass Ausbeutung hier buchstäblich zu verstehen ist und ihren körperlichen Ruin bedeutet, so trotten sie doch bei Schichtbeginn durch das Fabriktor.

Das historische Zentrum ist ein einzigartiges Gebilde von furchterregender Schönheit

Tarent liegt im innersten Winkel des Golfes, den das ionische Meer im Süden Italiens bildet, in einer einst wohl malerischen Bucht, die außen von zwei Inseln abgeschlossen wird. Die Altstadt steht auf einem Felsen, der hier einen natürlichen Hafen schützt, das offene Meer auf der einen, eine Lagune auf der anderen Seite. Eine Siedlung gibt es auf diesem Felsen seit dem 8. Jahrhundert v. Chr., als sich die Spartaner hier niederließen. Reste der griechischen Stadt sind eingegangen in die Bauten der Altstadt, so wie Gebäude der Römer, der Byzantiner und der Aragonesen. Es gibt in dieser Altstadt gotische Klöster, überbaute Gassen und ehemals prächtige Herrenhäuser. Vier verwinkelte Straßen, von denen unzählige Gassen abgehen, halten die alte Stadt zusammen.

Diese Altstadt ist ein einzigartiges Gebilde von furchterregender Schönheit. Mehr als 30 000 Menschen lebten hier, als sie noch tatsächlich bewohnt war, vor fünfzig oder vor zweihundert Jahren. Jetzt soll sie noch knapp tausend Bewohner haben. An einem grauen Werktag im Frühjahr sind allerdings auch diese Menschen nicht zu sehen, jedenfalls nicht in den Gassen und auf den kleinen Plätzen. Langsam scheint diese Altstadt in sich zusammenzusinken, die Fassaden sind dunkel angelaufen, die Fenster blind, die Eingänge vernagelt, viele Häuser werden, so scheint es, nur noch durch rostige Rohre gehalten, die zwischen ihnen gespannt sind, und aus den Nischen wachsen Büsche, was für die oft noch aus dem Mittelalter stammenden hohen Häuser der einfacheren Menschen genauso gilt wie für die barocken Paläste des Adels. Sollte hier je ein Restaurator arbeiten, bliebe sein Wirken, abgesehen vom Dom und von zwei, drei Kirchen, ganz und gar verborgen. Es gibt hier keine Spekulation mit Immobilien, es gibt hier kaum eine Gentrifizierung, und es gibt hier erst wenige Wohnungen, die an Touristen vermietet werden. Und wer wollte an diesem Ort auch seine Ferien verbringen?

Die plötzliche Industrialisierung Tarents zeitigte Wirkungen, die kaum im Interesse ihrer Gründer gelegen haben dürften. Zum einen isolierte sie die Stadt von der ländlichen Umgebung, von den Schafhirten, Rinderzüchtern, Zitrusbauern und Winzern, denen Apulien einen großen Teil des offensichtlich trotz allem vorhandenen Wohlstands verdankt. Zum anderen sorgte das Stahlwerk für eine Konzentration innerhalb der Industrien von Tarent, die alles produzierende Gewerbe jenseits der Stahlherstellung verschwinden ließ. Zum dritten zeitigte sie die Verwahrlosung des "centro storico". Wenn es schon in den Jahren nach 1861, also nach der Einigung Italiens, zu einem Bedeutungsverlust für die Altstadt gekommen war - im Zuge der Verwandlung des Hafens in die Basis der italienischen Kriegsmarine war ein neues Viertel im Osten der Altstadt, jenseits der Drehbrücke entstanden -, verwandelte sich das alte Zentrum nun sukzessive in eine "città fantasma", in eine Geisterstadt. Mehr als siebzig Prozent der Gebäude dort sind heute öffentliches Eigentum, weil sonst nicht mehr gewährleistet wäre, dass sie überhaupt stehenbleiben.

Zu den vielen Büchern, die über die Stadt Tarent und ihr Stahlwerk geschrieben wurden, gehört der dokumentarische Roman "Veleno" ("Gift", 2013) von Cristina Zagaria. Dioxin, heißt es da , hinterlasse eine Spur, die zum Hersteller zurückführe. "Es ist, als würden wir von kleinen mörderischen Händen ergriffen, sie berühren uns, verteilen sich auf unsere Körperteile (...) auf die Lungen, den Kopf, die Eierstöcke, die Haut, die Luftröhre (...), um dann das jeweilige Teil zu verschlingen und nichts zurückzulassen als eine dünne Spur." Solche Sätze sind das Gegenstück zur Eroberung des bukolischen Südens, wie sie Dino Buzzati in seiner mythischen Szene mit Planierraupe schilderte: Die Kolonisierung des Südens vollzieht sich von innen, als Krankheit und Zerfall.

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