"Tape-Recordings eines metaphysischen Ingenieurs":Wahrheit und Aspirin

Portrait du poete portugais Fernando Pessoa 1888 1935 AUFNAHMEDATUM GESCHÄTZT PUBLICATIONxINxGE

Fernando Pessoa.

(Foto: imago/Leemage)

"Die Musik ... wirkte wie ein Fado auf die Seele". Kai Grehn inszeniert Fernando Pessoas Lissabon. Das Hörspiel trifft die Melancholie der Innenschau, aber es fehlt an Leichtigkeit.

Von Florian Welle

Der portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa war passionierter Spaziergänger. Stets akkurat mit Dreiteiler, Fliege, Hut gekleidet, lief der schmächtige Handelskorrespondent wie sein literarisches Alter Ego, der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares, durch Lissabon: ein kettenrauchender, das urbane Leben durch eine randlose, runde Brille scharf beobachtender dunkler Strich. "Und ich laufe als gäbe es für nichts Heilung und mit mir ist eine vage Traurigkeit", lässt er Soares im "Buch der Unruhe" sagen.

Nimmt man Kai Grehns jüngstes Hörspiel "Tape-Recordings eines metaphysischen Ingenieurs" zur Hand - eine Gemeinschaftsproduktion von Bayerischem Rundfunk und Radio Bremen und nun im auf Punkmusik spezialisierten Major-Label erschienen -, fällt einem zunächst das aufwendig gestaltete Cover-Artwork auf. Noch bevor man das Hörspiel nach Texten von Fernando Pessoa einlegt, bleibt man an dem beigefügten Fotobuch von Andreas Töpfer hängen. 64 Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen dessen nostalgischen Blick auf die Stadt am Tejo, in der Pessoa 1888 geboren wurde und 1935 starb.

"Ich habe keinen Fahrschein für das Leben gelöst" Álvaro de Campos

Bei Töpfer scheint Lissabon eine aus der Zeit gefallene Stadt zu sein. Von ein paar Autos und Containern abgesehen, blicken wir vor allem in mit Wäsche verhangene Altstadtgassen - im Hörspiel wird man erfahren, dass für Pessoa vom Anblick trocknender Kleidung etwas Tröstliches ausging. Von ein paar Kindern abgesehen, begegnen wir auf den 2016 aufgenommenen Bildern kaum jungen Leuten. Stattdessen alten Männern, auf Krücken oder auf einen Gehstock gestützt. Sie sind ins Gespräch vertieft, mustern Trödel. Viele von ihnen sitzen auch einfach da und warten. Und befinden sich so damit in einem Pessoa-typischen Seinszustand. Der hat seinem Soares traurige Sätze in den Mund gelegt: "Ich betrachte das Leben als eine Herberge, in der ich verweilen muss, bis die Postkutsche des Abgrunds eintrifft."

Pessoa arbeitete mehr als zwanzig Jahre am "Buch der Unruhe", dessen Veröffentlichung er nicht erlebte. An Leberzirrhose erkrankt, schrieb er in den Abendstunden vor allem für die Wäschetruhe. Als man diese nach seinem Tod öffnete, kam mit mehr als 27 000 Manuskriptseiten ein Œuvre von beeindruckender Vielschichtigkeit zum Vorschein. Es machte den Dichter posthum zu einer Portalgestalt der literarischen Moderne.

"Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares" erschien in Portugal erstmals 1982. Auf Deutsch lag es 1985 vor, eine von Inés Koebel neu übersetzte, um viele weitere Texte aus dem "Unruhe"-Konvolut ergänzte Neuausgabe kam 2003 heraus und bildet die Hauptgrundlage für das vorliegende Hörspiel.

"Ich habe keinen Fahrschein für das Leben gelöst"

Auch der Regisseur Kai Grehn begab sich in die Rolle des Lissabon-Flaneurs. Er durchstreifte die Stadt auf der Jagd nach Originalton-Material, das er seiner Pessoa-Adaption unterlegen konnte. Unter den von Robert Gwisdek gesprochenen Texten hört man Verkehrslärm, einen Wolkenbruch, Stimmfetzen, Vögel. Auf diese Weise schlendert auch der Hörer durch Lissabon. Der Musiker Shaban hat einen elektronischen Soundteppich gelegt, der, fast an Schubert erinnernd, häufig das Schreiten eines Wanderers beschreibt. Zudem erklingt immer wieder ein um Schlichtheit bemühtes, mitunter mit Hall unterlegtes Klavierspiel, das die Pessoa-Sentenz "Die Musik ... wirkte wie ein Fado auf die Seele" beglaubigt. Saudade, jene typisch portugiesische Form des Weltschmerzes, ist hier elektronisch verfremdeter Klang geworden.

Pessoa verstand sein Gesamtwerk als ein "Drama in Leuten". Er schrieb sich ein ganzes Heer fiktiver Dichter-Persönlichkeiten mit eigenem Aussehen, eigener Biografie und eigenem literarischen Stil herbei, die sich auch untereinander kannten. Viele wollen über siebzig Heteronyme ausgemacht haben, hinter denen der Schriftsteller sich wie hinter wechselnden Masken versteckt hat. "Leben heißt ein anderer sein", flüstert Robert Gwisdek passend dazu an einer Stelle.

Zu den bekanntesten Heteronymen Pessoas zählt der fern der Stadt lebende Alberto Caeiro. "Der Hüter der Herden" wird von den anderen für seine bukolische Dichtung als "Meister" bewundert. Etwa von seinem Schüler, dem erhabenen Klassizisten Ricardo Reis, und von dem gelernten Schiffsingenieur Álvaro de Campos, dessen schwermütige Sätze Kai Grehn in sein Hörspiel eingeflochten hat. Schließlich ist da noch der bereits erwähnte Bernardo Soares. Weil dieser jedoch seinem Schöpfer in Aussehen und Wesen so ähnlich ist, nannte ihn Pessoa nur ein "Halb-Heteronym".

Hans-Jürgen Schmitt hat im Nachwort zu Pessoas Buch "Álvaro de Campos. Poesie und Prosa" darauf hingewiesen, dass Campos' Stil in seiner Klage und Verzweiflung mit dem von Soares nahezu identisch ist. Indem Kai Grehn für seine "Tape-Recordings" Robert Gwisdek mit seiner jungen Stimme nur ausgewählte Textsplitter von Soares und Campos in einem überwiegend leisen, verschleppten und müden Tonfall in ein altes Aufnahmegerät sprechen lässt, entsteht eine in sich stimmige, dichte Partitur von erlesener Melancholie und Monotonie. "Ich habe keinen Fahrschein für das Leben gelöst", so Campos; "meine Seele ist ein schwarzer Mahlstrom", heißt es bei Soares. Solche Sätze können in ihrer Bitterkeit und Bedeutungsschwere auf Dauer ermüden. Da wirkt es fast erleichternd, wenn Gwisdek zwischendurch den Ernst mit einem gespielten Seufzer ironisch konterkariert. Wie auch die Musik ab und an durch eine verträumte Spieluhrmelodie etwas von der Last wegnimmt.

Das Hörspiel, das eingangs den Vers "Die Musik, der Mond und die Träume sind meine magischen Waffen" wie ein Motto zitiert, hätte die schonungslose Innenschau schwer angekränkelter Menschen öfter durch Leichtigkeit aufbrechen können. Schließlich besitzen Soares und Campos durchaus hintergründigen Witz: "Leben heißt Strümpfe häkeln nach fremden Vorgaben"; "Ich brauche Wahrheit und Aspirin".

Kai Grehn zeigt nur den bekannten, den schwermütigen Pessoa. Wäre es nicht spannender gewesen, seinem Bernardo Soares einmal den die Natur wie ein Pan besingenden Alberto Caiero an die Seite zu stellen? Dieser ist sinnenfroh, nicht so vergrübelt. Damit wäre auch eine andere Facette des Rollenspielers Pessoa einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden.

Pessoa/Grehn: Tape-Recordings eines metaphysischen Ingenieurs. Hörspiel von Kai Grehn nach Texten von Fernando Pessoa. Aus dem Portugiesischen von Inés Koebel. Mit Robert Gwisdek. Major Label, Jena 2020. CD plus Fotoessay von Andreas Töpfer, ca. 67 Minuten, 19,90 Euro.

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