Am 13. Juli wurde Adolphe Binder, die Künstlerische Intendantin des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch, fristlos gekündigt. Sie reichte Kündigungsschutzklage ein, vor wenigen Tagen hat sie eine richterliche Mediation abgelehnt. Damit ist der Maximalschaden eingetreten. Das gilt für Binder wie für ihre innerbetrieblichen Gegenspieler, das gilt für das weltberühmte Tanztheater-Ensemble - und erst recht für ein paar Wuppertaler Lokalpolitiker. Sie haben den Konflikt erst unterschätzt und anschließend fahrlässig gehandhabt. Wer die Fäden des Streitgeschehens entwirrt, entdeckt eine fatale Verknotung. Das Desaster war vorhersehbar.
Am 1. Februar 2016 wird der Wechsel Binders von der Spitze der Göteborgs Operans Danskompani ans Tanztheater verkündet. In der Pressemitteilung über die "designierte Intendantin" ist von einer "international renommierten Persönlichkeit", "exzellent vernetzten Kommunikatorin", "visionären und engagierten Partnerin für die Zukunft eines Ausnahme-Ensembles" die rede. Die Zeit sei reif für "strukturelle Veränderungen", für die Entwicklung "innovativer Formate", lässt Stadtdirektor Johannes Slawig (CDU) wissen. Binder wird diese Mission zugetraut, dafür wird sie geholt: als Innovationsmotor für ein Traditionsunternehmen.
Doch niemand schafft die Voraussetzungen für "strukturelle Veränderungen". Alles bleibt wie gehabt. In der Hierarchie rangiert die Intendantin unter dem Geschäftsführer Dirk Hesse. Weder wird die Geschäftsordnung aktualisiert noch eine saubere Abgrenzung der Verantwortungsbereiche vorgenommen. Warum Binder dieses schiefe Arrangement akzeptiert, ist rätselhaft.
Bei ihrem Amtsantritt im Mai 2017 ist der fast fünfzig Jahre alte Organismus des Tanztheaters auf die Strapazen eines Umbaus nicht vorbereitet. Niemand hat realisiert, dass "strukturelle Veränderungen" Verluste mit sich bringen, dass ein auf Autopilot geschalteter Betrieb ins Trudeln gerät, wenn jemand das Steuer in die Hand nimmt. Schnell geraten Hesse und Binder aneinander. Auslöser sind Kompetenzrangeleien, Kommunikationsprobleme.
Dirk Hesse ist trotz mehrmaliger Anfrage der SZ nicht zu einem Gespräch bereit. Stadtdirektor Slawig gibt bereitwillig Auskunft und berichtet, dass ihm das Zerwürfnis im Spätsommer zu Ohren kam. Er leitet daraufhin "eine Mediation zwischen Herrn Hesse und Frau Binder" ein. Eine sinnvolle Maßnahme, die trotzdem komplett danebengeht. Slawig schaltet eine Unternehmensberaterin aus Düsseldorf ein, die ausweislich ihrer Website "McKinsey-Beraterin", "zertifizierter Coach" und "Wachstumsexpertin" ist - alles Mögliche also, nur keine Mediatorin mit Feldkompetenz - nämlich Erfahrung im Theatermilieu. Der Vermittlungsversuch scheitert, der Konflikt eskaliert ungebremst.
Spätestens Ende 2017 hätte der Beirat des Tanztheaters, in dem Kommune, Land und Pina-Bausch-Stiftung vertreten sind, von dem Machtkampf erfahren müssen. Statt das siebenköpfige Gremium zu informieren, setzt der Stadtdirektor ein Signal: Er stärkt die Position der Geschäftsführung, engagiert dafür den fachfremden Prokuristen Christoph Fries. Was dann passiert, nennen Konfliktexperten Allianzbildung. Wuppertals Kulturdezernent Matthias Nocke (CDU) sieht einen "komplexen Konflikt, der mit zunehmender Intensität personalisiert wurde, in der Absicht, Ensemblemitglieder zu instrumentalisieren". Die Tänzer, immerhin fast zwei Drittel der Belegschaft, kann er damit nicht meinen. Sie bleiben bis zuletzt unbeteiligt.
Stattdessen erreichen Beschwerden über Binders Führungsstil aus "der zweiten Führungsebene" das Büro des Stadtdirektors. Die Rede ist von "Technik, Disposition, Betriebsbüro, Kommunikation". Slawig reagiert, er spricht mit der einen, dann mit der anderen Seite. Einen Austausch setzt er nicht in Gang. Die Vorwürfe gegen Binder werden schriftlich niedergelegt. Das letzte Schreiben versteht Kulturdezernent Nocke als Handlungsappell: "Hätten wir nicht reagiert, wäre es zu einer Implosion des Tanztheaters Wuppertal gekommen." Aber wer ist das "Tanztheater Wuppertal"? Die Tänzer selbst sind bis zur Entlassung ihrer Chefin nie zur Sache gehört, um ihre Meinung gebeten, nach ihrer Erfahrung gefragt worden. Nach Auslegung der Stadtverwaltung besteht das Tanztheater offensichtlich: aus Geschäftsführung und Administration.
Der offizielle Grund für Adolphe Binders Rauswurf: lückenhafte Saisonplanung
Das kommunale Krisenmanagement ist ein Debakel. Zum finalen Knall kommt es, als Anfang Juli ein Anti-Binder-Dossier an ausgewählte Presseorgane durchgestochen wird. Die Berichterstattung wird zum Binder-Bashing, die Intendantin öffentlich demontiert. Und zwar auch unter Verweis auf Mobbing-Beschuldigungen aus dem Jahr 2016, die eine schwedische Zeitung kolportiert hat. Dass damals fast alle Tänzer der Operans Danskompani sich mit ihrer Ex-Direktorin solidarisierten, wird in Wuppertal verschwiegen.
Binders Rauswurf wird offiziell mit einer lückenhaften Saisonplanung 2018/19 gerechtfertigt. Ob dieser Vorwurf haltbar ist, ja wer überhaupt wofür zuständig war und was verbockt hat, wird nun das Arbeitsgericht klären müssen. Bis auf Weiteres ist die Intendantin ihren Job los. Auch Dirk Hesse räumt seinen Platz zum Jahresende. Alle Beteiligten sind gründlich blamiert, das Tanztheater Wuppertal zum Intrigantenstadl verkommen.
Frauen wie Adolphe Binder polarisieren: Weil sie Macher sind, Ideen durchziehen und dafür auch die eine oder andere Kollision riskieren. Das kann man kritisieren, frontal und direkt. Aber die Oberhoheit einer kaufmännischen Geschäftsführung zu übertragen, bedeutet in letzter Konsequenz, den künstlerischen Gestaltungsauftrag zu torpedieren. Dass Adolphe Binder das Tanztheater und sein Publikum mit zwei Uraufführungen beglückt hat, ist der einzige Trost in dieser trostlosen Situation.
Binders Ablehnung eines Güteverfahrens ist zur Hälfte den jüngsten Äußerungen des Stadtdirektors geschuldet. Slawig signalisierte Einigungsbereitschaft, schloss aber Binders Rückkehr aus. Nun schauen Politiker in Berlin und Düsseldorf fassungslos auf das Wuppertaler Debakel und fürchten um den Fortbestand dieses Tanztheaters.