Süddeutsche Zeitung

Tanztheater:Sprechen und schweigen

Zwei ikonische Künstlerinnen, Frida Kahlo und Virginia Woolf, werden für die Tanzbühne reanimiert.

Von Dorion Weickmann

Die eine Stimme vibriert vor Sinnlichkeit. Die andere klingt müde, eine Spur resigniert. Beide sind nur auf einer je einzigen Tonbandaufnahme verewigt. Die mexikanische Malerin Frida Kahlo besang um 1950 ihren Ehemann Diego Rivera, einen treulosen Egomanen. Viel früher schon hatte Virginia Woolf sich vor ein Mikro gesetzt, um der Liebe ihres Lebens zu huldigen: in Form einer Eloge auf die englische Sprache und die Schriftstellerei. Den Besuch im Tonstudio hat keine der beiden Künstlerinnen lang überlebt. Die Avantgarde-Autorin ging 1939 ins Wasser, niedergedrückt von der Aussicht auf eine weitere schizophrene Episode. Kahlo starb 1954, nicht einmal fünfzig Jahre alt, an einer Lungenembolie.

Rückblickend teilen die Frauen ein Schicksal: Beider Kunst ist im Schatten von Krankheit und Tod entstanden, beider postume Bedeutung als feministische Ikone seit langem besiegelt. Was ihre regelmäßige Wiederkehr in Büchern, Filmen und Performances zur Folge hat, mit schwankenden Ergebnissen. Die allerjüngsten Reanimationsversuche sind nun in Amsterdams Muziektheater und im Kulturpalast La Filature, Mulhouse, zu besichtigen. Welches Revival floppt, welches toppt, lässt sich auf Anhieb erkennen - und Rückschlüsse darauf zu, wie weibliches Kunstschaffen sinnvoll bespiegelt statt sinnlos belobhudelt und auf niedliche Pop-up-Optik geschrumpft wird.

Diesen Fauxpas begeht Annabelle Lopez Ochoa in Amsterdam mit "Frida", einer broadwaytauglichen Revue-Produktion, die anscheinend nur versehentlich bei Het Nationale Ballet einstudiert wurde. Lopez Ochoa zählt zu den wenigen Choreografinnen, die den Sprung aufs internationale Ballettparkett geschafft haben. Die gebürtige Belgierin ist geistreich und zielbewusst, erliegt aber dank gut gehender Geschäfte offenbar der gleichen Versuchung wie viele Kollegen: Premieren werden im Mehrfachmodus in den Monatsplaner gedrückt. Also wurde "Frida" flott als Hochglanz-Tanzerzeugnis eingetütet. Choreografisch wie inhaltlich bleibt es ein Schmalspur-Event, dessen gefällige Oberfläche sich an Kahlos surrealer Bilderwelt festsaugt. Ohnehin schon inflationär verbreitete Selbstporträts wie "Die zwei Fridas" oder "Die gebrochene Säule" werden als Kulisse und Kostümierung ausgeschlachtet. Eine vampireske Operation, die auf ein Begräbnis zweiter Klasse für Kahlos Kunst hinausläuft. Als schaffende und schöpfende Künstlerin taucht sie auf Ochoas szenischem Karussell ohnehin nicht auf. Einzig die leidende, liebende und libidinös gesteuerte Femme malade kriegt den ganz großen Auftritt.

Die Inszenierung hat trotzdem ihre Momente. So wenn etwa die Kahlo als junge Frau zum Unfallopfer wird und das Verkehrschaos ringsum in Finsternis versinkt. Bis nur noch der Goldstaub glüht, der - historisch verbürgt - aus dem Farbkasten eines mitfahrenden Malers über ihren blutverschmierten Körper rieselt. Solche existenziellen Wendepunkte markiert Lopez Ochoa mit spitzem Stift, während sie sonst nur die biografische Timeline in Bewegung versetzt. Heraus kommt ein Bilderbüchlein, das alle Altersklassen und die Buchhaltung von Het Nationale Ballet erfreuen wird: ein Kassenknüller, garantiert.

Wo "Frida" an Äußerlichkeiten klebt und Kunst mit Kunstgewerbe verwechselt, wagt Gil Harush mit "Yours, Virginia" in Mulhouse ein riskantes Experiment. Der israelische Choreograf bohrt sich gleichsam unter die Haut von Virginia Woolf, erkundet ihre zerrissene Seele und den Abglanz, den das gespaltene Ich in Romanen, Briefen und Essays hinterlassen hat. Mit minimalem Dekor und einer hoch differenzierten Bewegungssprache gelingt Harush das Unwahrscheinliche, ja Unglaubliche: ein Ballett auf Augenhöhe mit der Künstlerin, die es einkreist. Was natürlich auch dem fabelhaften Ballet du Rhin geschuldet ist, einer mittelgroßen Kompanie, bestückt mit höchst eigenwilligen Tänzertypen. Sie beherrschen den klassischen Standard und setzen hier umso beherzter zum Sprung ins Freie an. Gil Harush fängt sie auf, um ihnen Woolfs Ego und Sprache einzuschreiben, ihre Motorik umzuprägen - unter Verzicht auf ein eindeutiges Virginia-Double.

"Yours, Virginia" unternimmt keine Personen-, sondern eine Zustandsbeschreibung. Es wirbelt Fakten und Fiktionen, Figuren und Phantasmen durcheinander, um das dauerprekäre Verhältnis der Geschlechter zu beleuchten. Die Blaupause dafür liefern Virginia und Leonard Woolf - ein Ehepaar, auf viele Tänzerköpfe und -körper verteilt. Während im Hintergrund Schlüsselsätze aus Woolfs literarischem Kosmos aufleuchten, wird das Leben selbst zum Fragment: "And I begin to ask, are there stories?", heißt es etwa in "Die Wellen". Fragen, niemals Antworten. Stattdessen Frauen, die einander voller Sehnsucht umarmen, und Männer, Hand in Hand. Ein Traum nur. Der Alltag ist schließlich keine gewaltfreie Zone.

Genauso wenig wie die Literatur. Ein Pas de deux im Kampfpanzer steht für "Orlando", ein Blumenteppich für das Bouquet, das "Mrs. Dalloway" ersteht. Aber ein Gärtner stutzt das Arrangement, köpft die überstehenden Blüten. Nichts darf, soll, kann die bürgerliche Ordnung erschüttern. So bleibt am Ende doch nur der Weg ins Wasser. Ein Stein, ein Glas Wasser - bei Gil Harush reicht das, um Virginia Woolfs Freitod anzudeuten. Es sind die Lücken, die Löcher im Gewebe seines Wurfs, die den Reiz des Abends ausmachen. So und nur so lässt sich eine moderne Legende auf der Tanzbühne beatmen, die Stimme der Toten noch einmal vernehmen.

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Quelle:
SZ vom 13.02.2020
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