Tanztheater:Mutters Solo ist das beste

Tanztheater: Hellsichtig, scharf und tänzerisch eindrucksvoll: Oona Dohertys „Hard To Be Soft – A Belfast Prayer“ über den Nordirlandkonflikt.

Hellsichtig, scharf und tänzerisch eindrucksvoll: Oona Dohertys „Hard To Be Soft – A Belfast Prayer“ über den Nordirlandkonflikt.

(Foto: Dajana Lothert)

Beim "Tanz im August" in Berlin werden Isadora Duncan und andere Ikonen wiederbelebt.

Von Dorion Weickmann 

Vier Leute hocken am Boden, umringt von drei Meter hohen Katzenbäumen. Das Quartett geht handwerklicher Arbeit nach, windet aus Seilen mal Kopfputze, mal Halskrausen in Anlehnung an die berühmten Benin-Bronzen. Irgendwann flattern die Herrschaften auf, fleuchen mit gefletschten Metallgebissen durch die Flora aus dem Zoologie-Fachhandel - und das war's dann schon mit "White Dog", dem Beitrag der französischen Choreografin Latifa Laâbissi zum Berliner Festival "Tanz im August". Das Stück soll die "Zirkulation kultureller Zeichen" thematisieren, behauptet das Programmheft. Aber was im HAU 2 am Landwehrkanal über die Bühne geht, sieht so sehr nach Siebziger-Jahre-Off-Szene aus, dass das eigene Hirn Inspektor Derrick zu hören meint, den ewig stirnrunzelnden und dauerlakonischen TV-Ermittler jener Jahre: "Das also ist die neue Kunst?"

Glücklicherweise sank das Festivalniveau nur ausnahmsweise auf "White Dog"-Marke herab. Nach zwei Dritteln des Marathons lässt sich festhalten, dass drei Formate auf jeden Fall funktionieren: Was historisch, politisch oder artistisch gut verpackt ist, zieht immer. So ging "Body Concert" der Ambiguous Dance Company aus Südkorea ans Herz, trotz akustischer Verhunzung einer Händel-Arie und optischer Entstellung des Balletts mit Sichelfüßen, Krähenschultern und Knallsprüngen. Aber die Leidenschaft der sieben zeitgenössisch sozialisierten Performer steckt an, weil sie poppiges Entertainment mit Arthouse-Anspruch machen, jung, frech, gefällig und gefallsüchtig und deshalb im einstigen Lichtspielhaus Hebbel-Theater am richtigen Ort. Ähnlicher Befund im Radialsystem, wo Anne Nguyens Compagnie par Terre eine Break-Session namens "Kata" veranstaltete und das Publikum animierte, die Tribüne wie im dionysischen Rausch zu betrampeln.

Hellsichtig, scharf und tänzerisch ungemein eindrucksvoll ist Oona Dohertys "Hard To be Soft - a Belfast Prayer". Die Kulisse ist keine Kathedrale, sondern ein gigantischer Käfig, in dem zunächst die Choreografin selbst der Verrohung, Zerstörung und Erniedrigung Gestalt verleiht, die während des Nordirlandkonflikts wütete. Anschließend treten zwei schwergewichtige Männer im Halbdunkel gegeneinander an: Vater und Sohn, deren Bäuche wie Panzerschilde kollidieren. Ein selbstbewusster Mädchentrupp inszeniert die eigenen Körperkurven in Neonfarben, bis die Teenie-Normalität im Ausnahmezustand flöten geht. Oona Dohertys Liturgie ist ein politisches Statement, ein Plädoyer für Solidarität und Wirklichkeitssinn: Wer wegsieht, wenn es wehtut, verwechselt Selbstschutz mit Ignoranz - und bezahlt mit Abstumpfung.

Bei Jérôme Bels Uraufführung "Isadora Duncan" tanzen dann auch die Zuschauer

Niemand wusste das besser als jene Künstlerin, die dem Festival seinen Höhepunkt bescherte, dank einer fantastischen Wiedergängerin. Eine Frau in fliederfarbener Tunika tritt auf die Bühne. Halblanges weißblondes Haar umrahmt ihr würdevoll ernstes Gesicht. Der Tanz hebt an, kreuzt diagonal die Szene. Die Frau scheint ein kleineres, unsichtbares Wesen an der Hand zu führen. Bisweilen wendet sie sich ihm zu, weist die Richtung, liebevoll, entschieden. Am Ende des Weges kniet sie nieder, umfängt das Geschöpf mit unendlicher Zärtlichkeit. Dann lässt sie es frei. Die Zeit steht still. Die winkende Hand hält inne. Die Bewegung erstirbt.

Keine fünf Minuten dauert dieser Auftritt im Deutschen Theater. Es ist die große Stunde der 69-jährigen Tänzerin und Lehrerin Elisabeth Schwartz, die Jérôme Bel für seine Uraufführung "Isadora Duncan" gewonnen hat: als Inspiration, Wissensquell, Muse und Tänzerin. 1877 geboren, befreite Isadora Duncan den Bühnentanz im Rückgriff auf antike Ideale. 1913 verlor sie ihre beiden Kinder durch einen Autounfall und verwandelte diesen Schicksalsschlag Jahre später in ein Solo - "Mother", dem Elisabeth Schwartz nun neues Leben einhaucht. Bels Lecture-Demonstration seziert Duncans Kunst (in Bezugnahme auf ihr autobiografisches Buch "My Life") aufs Allersinnlichste und Allerpräziseste - so überzeugend, dass sich zuletzt ein Dutzend Menschen auf die Bühne trauen, um ein Chopin-Prélude à la Duncan zu lernen. Ein lebendes Memorial gewissermaßen, und ein unvergesslicher Festivalmoment.

Der Hommage an Merce Cunningham fehlt ein bisschen die Lässigkeit

Nicht ganz so überzeugend fällt die Hommage an den zweiten Pionier der Moderne aus, Merce Cunningham. In der Volksbühne zeigt das Ballet de Lorraine den von Schimären bewohnten, 1968 kultivierten "Rain Forest". Andy Warhol hat ihn mit silbrigen Luftkissen bepflanzt, die sichtlich gealtert sind, seit ihre herzförmigen Verwandten jede Kleinstadtkirmes bevölkern. Besser machen sich Mark Lancasters gelbe Volants im Hintergrund von "Sounddance", das Cunningham 1975 im Anschluss an einen Aufenthalt an der Pariser Oper choreografierte: sehr französisch, sehr akademisch und technisch überkomplex. Womit das Ballet de Lorraine kein Problem hat. Dennoch fehlt da ein Hauch Manhattan, ein Gran Lässigkeit, wirken die Tänzer aus Nancy doch eher bemüht als beflügelt. In Musterschülermanier bestreiten auch ihre Kollegen vom Berliner "Dance On"-Ensemble den zweiten Teil des Cunningham-Abends, der die Zutaten von "Story" (1963) unter dem Etikett "Berlin Story" verkauft. Herauskommt kein saftiger Burger, sondern eine etwas zähe Bulette. Aber das ist nun mal ziemlich typisch Berlin. Nicht nur bei "Tanz im August".

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