Tanztheater im Stream:Redux gegen Reflux

Tanztheater im Stream: Die Entdeckung der Liebe vor ozeanischem Horizont: "Der Liebhaber" nach Marguerite Duras in der Choreografie von Marco Goecke in Hannover.

Die Entdeckung der Liebe vor ozeanischem Horizont: "Der Liebhaber" nach Marguerite Duras in der Choreografie von Marco Goecke in Hannover.

(Foto: Ralf Mohr)

Digitale Tanzpremieren aus Köln und Hannover: "Gymnastik" als ermattende Turnstunde von Gintersdorfer/Klaßen und Marco Goeckes bravouröses Ballett "Der Liebhaber" nach dem Roman von Marguerite Duras.

Von Dorion Weickmann

Spätestens seit Pina Bausch müssen Tänzer auch den Bühnensprechakt beherrschen. Dieser dient der Erweiterung ihrer Körperkunst - möglichst unter Vermeidung allen Blablas. Warum schweigende, allenfalls aus dem Off beschallte Tänzer bisweilen doch die bessere Alternative sind, lässt sich an zwei soeben uraufgeführten Stücken studieren: an der Kölner Produktion "Gymnastik" mit Richard Siegals Ballet of Difference und an dem Ballett "Der Liebhaber" aus Hannover, das Marco Goecke frei nach Marguerite Duras' Roman entworfen hat. Hier wie dort wurde die Premiere live gestreamt und steht auf Abruf bis in den April zur Verfügung - auf schauspiel.koeln nur tageweise, bei staatstheater-hannover.de rund um die Uhr.

Wer beides hintereinander ansehen will, sollte zunächst "Gymnastik" durchsitzen. Oder besser noch bei der einen oder anderen Übung mittun, um die rasch aufkommende Ermattung zu besiegen. Das motorische Niveau ist insofern niedrigschwellig, als der Choreograf Richard Siegal sein am Schauspiel Köln residierendes Ballet of Difference diesmal an das Künstlerduo Gintersdorfer/Klaßen ausgeliehen hat. Das sind die auf postkoloniale Experimentalformate abonnierten Theatermacher Monika Gintersdorfer (Regie und Choreografie) und Knut Klaßen (Bühne).

GYMNASTIK

"Gymnastik - Stretching out to past and future dances", eine Kölner Produktion von Gintersdorfer/Klaßen mit dem Ballet of Difference.

(Foto: Knut Klaßen)

In "Gymnastik - Streching out to past and future dances" würfeln die beiden eine Handvoll Tänzer, zwei Favoriten aus dem eigenen Performance-Pool und den musikalischen Multimaniac Hans Unstern zusammen. Gemeinsam strampelt und kreiselt, schwingt und trippelt, trabt und posiert dieses Team zwei Stunden lang unter Berufung auf historische Skandalfiguren wie die tanzende Femme fatale Anita Berber oder den expressionistischen Ausdruckstänzer Harald Kreutzberg. Dazu wird mit Stäben, Kugeln, Seilen und allerhand sexy Requisiten hantiert, während mündlich vom Dank an Antifa-Aktivisten bis zur non-binären Diskursagenda sämtliche Zeitgeistmarker zum Aufruf kommen. "Gymnastik" ist Tiktok-taugliche Körper- und Kunstertüchtigung mit hohem Reflux-Faktor: schlecht durchgekaut und nur halb verdaut.

Es herrscht die Virtuosität einer aufs Wesentliche reduzierten Sprache

Da kommt "Der Liebhaber" aus Hannover als Antidot gerade recht. Marco Goecke, der seit 2019 das dortige Staatsballett leitet und seine erste abendfüllende Kreation wegen Corona monatelang vor sich herschieben musste, besteht den choreografischen Härtetest auf der Digitalbühne mühelos. Gleiches gilt für sein Ensemble, das sich Goeckes kristallscharf kalibrierte Bewegungsmechanik einverleibt und ihre Elementarteilchen zu fein gesponnenen Seelenporträts verdichtet hat. Auch deshalb leuchtet auf Anhieb ein, was Goecke mit Marguerite Duras verbindet: die Virtuosität einer aufs Wesentliche reduzierten Sprache, einer Redux-Rhetorik, deren Ellipsen fantastische Freiräume erzeugen und so das lesende, das schauende Ich tief in die Geschichte hineinziehen.

Tanztheater im Stream: Hommage an die Literatur und an den Tanz: "Der Liebhaber" am Staatsballett Hannover.

Hommage an die Literatur und an den Tanz: "Der Liebhaber" am Staatsballett Hannover.

(Foto: Ralf Mohr)

Goeckes Version folgt den Umrissen der literarischen Vorlage, ohne sie zu kopieren. Sie profiliert die Protagonisten: das junge Mädchen und seinen Liebhaber, die familiäre Verstrickung der beiden, das Armutsgefälle und den fernöstlichen Kolonialhintergrund der Zwischenkriegszeit. Zugleich aber zeigt Goecke die Entdeckung der Liebe als ebenso rausch- wie schmerzhaftes Geschehen, das allein der ozeanische Horizont des Bühnenbilds (Michaela Springer, Marvin Ott) begrenzt. Atmosphärisch stimmig wirken auch die musikalischen Stränge von Ravel bis Chopin, hintereinander geflochten vom Staatsorchester unter Valtteri Rauhalammi und behutsam um Textpassagen vom Band ergänzt.

Zuletzt steht das Alter Ego der Duras auf der Bühne: eine Autorin von 70 Jahren, Teil der Pariser Bohème. Deren goldene Ära lässt Goecke aufleben, indem er zwei schwarze Pfauenfederfächer über die Bühne schickt - das stilbildende Show-Accessoire der Ballerina Zizi Jeanmaire. Hommage an die Literatur, Hommage an den Tanz: Marco Goecke gelingt beides mit Bravour.

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