Tanztheater:Die Welt ist auch nur ein Tanz

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Sneakersohlen bremsen schüchterne Annäherungsversuche ab, und alle bleiben immer in Bewegung. (Foto: Anne van Aerschot)

In Hamburg taucht Anne Teresa De Keersmaeker Shakespeares "Wie es euch gefällt" in grelles Licht und nennt ihr Stück "Golden Hours (As you like it)".

Von DORION WEICKMANN

Sie hat das Repertoire von Bach bis Béla Bartók durchmessen, Ausflüge in die Minimal Music unternommen, Abstecher zu Neutönern und Spektralexperten gewagt. Die Huldigungen der belgischen Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker wurden auch schon Popgrößen wie den Beatles zuteil. Wobei Huldigung bei ihr nichts anderes meint als das Anzapfen eines Materialreservoirs, dem sie Idee, Subtext und Rahmen der Inszenierung entnimmt. Im Fall der Neuproduktion "Golden Hours (As you like it)", als Deutschlandpremiere auf Hamburgs Kultur-Campus Kampnagel gezeigt, ist Keersmaeker von einem Popsong abgesprungen und in der Weltliteratur gelandet. Über Brian Enos "Golden Hours" kam sie auf Shakespeares "Wie es euch gefällt": Komödie der Irrungen und Wirrungen, die im Unterholz des Ardenner Forsts den erotischen Schlagbaum zwischen den Geschlechtern niederreißt. Das Bindeglied zwischen Enos Elegie des Verdämmerns und Shakespeares Pastoralidyll ist die Natur als Gegenmodell der Zivilisation. Beschworen wird ein aus der Zeit gefallenes Illyrien, das Takt und Tempo des Lebens aufhebt, um Blick und Begehren aufs Wesentliche zu lenken: sich selbst und den anderen.

Sechs Frauen, fünf Männer schreiten von der Brandmauer auf die Zuschauer zu, während "Golden Hours" in vier Reprisen über alle Köpfe schwirrt. Das gleißende Oberlicht setzt Bühne und Auditorium in eins. Eine Grenze gibt es nicht, nur einen Raum, den die Tänzer zweieinhalb Stunden lang okkupieren, stellvertretend für alle Anwesenden. Was sie verhandeln, sind jedermanns Fragen: Wer bin ich, was hat mich geprägt, wen liebe ich, und wer liebt mich? Weil Keersmaeker beschlossen hat, die Antwort bei Shakespeare zu suchen, muss sie Verse in Bewegungssprache übersetzen. Selbst Debütantin in diesem Metier, verkündete sie den Darstellern nichts als die Vorgabe: "Mein Sprechen ist mein Tanzen." Jeder Tänzer, jede Tänzerin hat zunächst eine oder mehrere Rollen auswendig gelernt, um danach in improvisatorischen Prozessen das Vokabular zu ermitteln, das Shakespeares Worte ins Gestische transponiert.

Da fliegen Fäuste in die Luft, bohren sich Fingerkuppen in schutzlose Nacken

Während das Gros des Ensembles nach Bedarf in die Haut von Narr, Schäfer oder Edelmann schlüpft, prägen zwei Männer das zentrale Doppelgestirn Orlando und Rosalinde: der poetische Mikko Hyvönen und der sagenhaft androgyne Aron Blom. Seine Rosalinde schäkert wimpernklimpernd wie ein Mädchen, reckt männlich zupackend die Hände und trägt, genau wie Orlando, Schuhwerk mit dezenten Goldstreifen. Keersmaeker setzt sparsame Zeichen, was Personen, Handlung und seelische Verfasstheiten angeht. Hin und wieder wird ein Shakespeare-Zitat auf die Rückwand geworfen, ansonsten taucht der Betrachter in einen Theaterkosmos ab, in dem das menschliche Mit-, Gegen- und Füreinander, das Intrigieren und Alliieren im Machtkampf von Mann und Frau dauerdynamische Reibung erzeugt.

Da fliegen Fäuste in die Luft, schleudern Sprünge über mehrere Meter, bremsen Sneakersohlen schüchterne Annäherungsversuche ab, bohren sich Fingerkuppen in schutzlose Nacken. Homo homini lupus, das lässt sich in Keersmaekers Zauberwald gut beobachten. Aber genauso gut das Gegenteil, jenes leidenschaftliche Sehnen und blinde Werben, das Orlando den Verstand benebelt und der Schäferin Phoebe einen Bräutigam vorgaukelt, sobald Rosalinde in Knabenkleidern über die Flure eilt.

Die intimen Begegnungen vollziehen sich inmitten einer Szenerie, die niemals stillsteht. Unaufhörlich wird das Kollektiv von Bewegung geflutet, jede dramatische Episode scheint wie zufällig abgeleitete Energie aus ihm herauszuwachsen. Ein Sinnestrug, wo in Wahrheit geometrische Schöpfungspläne walten: Viereck, Raute, Spirale, Kreis, Punkt geben den fünf Akten ein Gepräge, das in der räumlichen Anordnung der Akteure gründet. Bis zur Schlusspointe des Epilogs, den Aron Blom alias Rosalinde mit symbolistisch gerankten Armen und halb ernstem, halb schelmischem Augenaufschlag gibt.

Keersmaekers Choreografie ruft keine historischen Vorbilder auf und summiert sich schon gar nicht zum Handlungsballett üblicher Machart. Aber die eigentümlich beredten Gebärden, die bisweilen zu Tableaux vivants sortierten Protagonisten und das Sujet erinnern an jene Erzählversuche, die der Ausreifung des klassischen Tanzes vorausgingen. Der Brite John Weaver war es, der sich Ende des 17. Jahrhunderts auf die antike Pantomime besann und sie zugleich um eine tänzerische Dimension erweiterte. Wie Keersmaeker vermochte auch er das Wort nicht völlig zu verbannen, manche seiner Erfindungen kauderwelschten rätselhaft vor sich hin. Keersmaekers "Wie es euch gefällt"-Variation ist ebenfalls nicht durchgängig verständlich. Aber dafür bildmächtig, kraftvoll und frisch. Dass soll der Künstlerin, die seit dreißig Jahren an der Avantgarde-Front steht, erst einmal jemand nachmachen.

© SZ vom 08.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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