Süddeutsche Zeitung

Tanz:Zoom im Tanzschritt

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Das Online-Konferenzformat wird als Performance-Plattform entdeckt, auch andere digitale Spielstätten boomen. Sie ermöglichen den Trip in ganz neue Theaterdimensionen.

Von Dorian Weickmann

Letzter Blick aufs Glitzer-Outfit, schnell noch den schwarzen Pony fingerstriegeln - Kamera läuft, das Zoom-Meeting beginnt. Nur klinkt sich Thao Nguyen weder bei Bürokollegen ein noch absolviert die Sängerin einen Konferenztermin. Stattdessen ploppen um sie herum nacheinander acht Tänzer ins Bild, die mal synchron, mal im Switch-Modus performen: Schulter-Kreisel, Minisprung, Armgirlande und das Gesicht ran an die Kamera - auf Tuchfühlung mit dem Zuschauer sozusagen. "Phenom" heißt der Song der US-Indie-Band Thao & The Get Down Stay Down, der die Zoom-App zum digitalen Tanzraum umfunktioniert. Das Setting war eigentlich nur als Notbehelf gedacht, weil Corona den bereits angelaufenen Videodreh zum Absturz brachte. Doch jetzt ist der Zoom-Clip bereits vor dem Erscheinen des neuen Albums Mitte Mai online und hat gute Chancen, viral zu gehen. "Phenom" dokumentiert die Eroberung der Zoom-Sphäre durch popchoreografische Artistik und damit einen Kunsttypus, der gerade schwer im Kommen ist.

Im Analogen stehen Tanz und Big Business schon länger auf gutem Fuß miteinander. Das beste Beispiel dafür hat die kanadische Choreografin Crystal Pite 2016 mit "The Statement" geliefert: Zwanzig Minuten Krisensitzung auf der Vorstandsetage von Konzern XY - Vorwürfe, Täuschungsmanöver und Vertuschungsversuche als getanzter Schlagabtausch auf offener Bühne. Pites Inszenierung wirkt genauso subversiv wie Thao Nguyens aktuelle Online-Session. Wo "The Statement" die manipulative Dax-Welt mit theatralen Mitteln kritisiert, steht "Phenom" umgekehrt für die künstlerische Unterwanderung der geschäftlichen Zoom-Zone.

Das Konferenztool aus San José gehört zweifelsohne zu den Corona-Gewinnern, vor allem auf dem Wirtschaftsparkett und im Bildungssektor, wo Abertausende von Schülern und Studenten gerade Fernunterricht via Smartphone erhalten. Inzwischen hat sich auch die Kultur zugeschaltet. Der Choreograf Hofesh Shechter lädt regelmäßig zu Zoom-Partys, auf denen DJs in megatrendigen Retro-Wohnküchen auflegen. Derweil hotten die Gäste einzeln oder paarweise in den eigenen vier Wänden ab, häufig angetan mit extravaganten Gesichtsmasken. Theater streamen zugangsbegrenzte Experimente in Form halbszenischer Zoom-Mosaiks, Tanz- und Ballettschulen halten den Betrieb mittels Zoom-Lektionen aufrecht. Gleiches gilt für die Choreografie. So verlegte etwa Mark Morris, ein Veteran der US-Tanzmoderne, die Proben für seine neue Kreation "Lonely Waltz" auf Zoom, wo das Stück in einer Kurzfassung auch Premiere feiern wird. Ohnehin boomen digitale Spielstätten dank Corona, und zwar nicht als Konkurrenz für den Guckkasten, sondern als Trip in ganz neue Theaterdimensionen.

Der Clip weist voraus auf das, was wohl ansteht: lauter Solo-Auftritte wegen des Abstandsgebots

Dass dort andere Spielregeln gelten, lässt sich an "Phenom" ablesen. Die binnen weniger Stunden zusammengestrickte Choreografie ist so einfach wie effektvoll. Sie schiebt Mimik und Ausdruck in den Vordergrund und ist maßgeschneidert für Zooms Galerie-Optik, die nur Kopf und Oberkörper abbildet. Dagegen brauchte die Crew um Choreografin Erin S. Murray, die schon für Ed Sheeran im Einsatz war, für das technische Prozedere eine volle Woche. Nun spielt "Phenom" clever mit den Gimmicks des Formats und weist voraus auf das, was dem Tanz womöglich im Herbst ganz generell ins Haus steht: lauter Solo-Auftritte wegen des Abstandsgebots, die sich allenfalls digital zum Kollektiv bündeln lassen. Ein Phänomen, das "Phenom" schon mal ziemlich gut vorexerziert.

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SZ vom 29.04.2020
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