Süddeutsche Zeitung

Tanz:Trottoirtheater

Sebastian Matthias choreografiert einen Streifzug quer durch Dresden - ein Experiment mit Aha-Effekt.

Von Dorion Weickmann

Blitzblaue Augen funkeln die Zuschauer an. Johanna Roggan trägt Mund-Nasen-Schutz. Auf ihrer Stirn glitzern Schweißperlen, unter ihren Füßen dampft das Trottoir der Dresdener City. Dennoch wird die Tänzerin gleich eine zauberhafte Performance hinlegen: Einstimmung auf "Veduta - Stadtansichten", einen Tanzstreifzug quer durch die Elbmetropole auf der Suche nach dem "Corona Score". So nennt der Choreograf Sebastian Matthias das unsichtbare Muster unserer Fortbewegung im öffentlichen Raum. Nebenschauplätze werden aus-, Nachbargespräche weggeblendet, seit die Wahrung des Mindestabstands unsere gesamte Aufmerksamkeit beansprucht.

Wer sich auf das städtische Stationendrama einlässt, muss mitmachen und mittanzen

Genau da setzen Sebastian Matthias und seine Spieler an: ein Dutzend Performer, teils Profis, teils Amateure. Im Auftrag des Staatsschauspiels Dresden verdrehen sie jeweils fünf Leuten den Kopf, im Schichtbetrieb und über sechs Etappen. Das Ergebnis ist ein urbanes Erweckungserlebnis, Manna für die ausgehungerte Theaterklientel.

Stadterschließungen dieser Art sind nicht neu. Kollektive wie She She Pop haben sie populär gemacht, der scheidende Kammerspiel-Intendant Matthias Lilienthal brachte das Format mit "Shabbyshabby Apartments" und "X-Sshared Spaces" gleich mehrfach in Anschlag. Zurzeit liefert es eine attraktive Alternative zum Besuch von Parkettreihen, die ausgedünnten Gebissen gleichen. Die Ansteckungsgefahr ist im Freien erheblich reduziert, der Mitmachfaktor schon eingepreist. Wer sich auf das städtische Stationendrama einlässt, wird sofort aus der Komfortzone katapultiert und muss sich als Mitspieler bewähren. Für den ästhetischen Erkenntnisgewinn hat das weitreichende Folgen.

De Keersmaeker schlenkernde Arme und lässige Handgelenksrotationen zu kunstvollen Tanzgefügen verzahnten. Roggan zitiert sie im Schnelldurchlauf und so überzeugend, dass klar wird: Diese Avantgarde-Erzeugnisse passen auch heute noch besser unter die Straßenlaterne als ins Rampenlicht. Achtmal hintereinander zieht die Tänzerin ihre Lektion an diesem Abend durch und schickt so ein Besucher-Quintett nach dem anderen bestens präpariert auf Tour.

Die "Veduta"-Route führt durch unterschiedliche Milieus der Stadtgesellschaft. An jedem Schauplatz entfaltet sie ein neues Narrativ, handelt von Arbeitsamt und Fußballverein, Selfie-Session und Bibliothek. Auf der Einkaufsmeile schlägt die Stunde für ein "Titanic"-Special. Es entspinnt sich die ikonische Szene schlechthin: Leonardo DiCaprio und Kate Winslet am Bug des Ozeandampfers - als reines Kopfkino. Denn der Performer Daniel Leidert erzählt die Episode bloß. Parallel dazu führt er einen Handy-Clip aus den musealen Katakomben des Albertinums vor und lotst die Besucherin auf spiralförmigen Wegen mitten durchs Fußgängergewühl.

Die Reizüberflutung schärft die Wahrnehmung: Geräusche und Gesichter prägen sich ein

Ein Dreifachexperiment mit Aha-Effekt, denn die Reizüberflutung löst das Gegenteil dessen aus, was unter Normalbedingungen eintritt: Statt wegzudriften, reagieren die Sinne wie hypersensibilisiert. Sie tragen mehr und schärfere Beobachtungen zusammen: das laute Scheppern der Straßenbahn, den kränklich schnaufenden Mops, das weinende Kind an der Hand eines unwirschen Aufpassers, raschelnde Zara-Tüten beim Überqueren der Ampel. Wie Imprints drücken sich Gesichter und Fassaden ins Gedächtnis, der Akt des Flanierens gerät zum Wahrnehmungsmarathon.

Über das Touristenareal an der Frauenkirche, den Synagogenneubau am Elbufer geht es hinüber auf die andere Seite des Flusses, zum abschließenden Rave am Kleinen Haus des Staatsschauspiels. Ein halbes Dutzend Tänzer trudelt um einen herum, wie ein Schwarm Fische oder eine virale Armada, angriffsbereit, lauernd, ein bisschen bedrohlich. Was hilft? Selbst lostanzen. Die Sensoren für das, was auf und unter dem Dresdener Stadtpflaster vor sich geht, justiert "Veduta" neu. Insofern taugt der Zweistundentrab mit Performance-Pausen durchaus als Theaterersatzstoff. Auch wenn er eher alltägliche als erhabene Eindrücke hinterlässt.

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Quelle:
SZ vom 16.06.2020
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