Süddeutsche Zeitung

Tanz:Staubwedel erforderlich

Fader Auftakt des Berliner Festivals "Tanz im August". Eszter Salamon aber brilliert mit einem Stück mit ihrer Mutter.

Von Dorion Weickmann

Treppab in den Keller, treppauf in die Mansarde - beim Berliner Festival "Tanz im August" kommen körperliche und kulturelle Strapazen zusammen. Zum Opening der 31. Ausgabe stapfte man erst einmal ins dritte Untergeschoss der Akademie der Künste am Pariser Platz, dann in die Dachetage des Theaters Hebbel am Ufer, wo dessen kleinste Spielstätte residiert. Dazwischen lockten zwei Verschnaufpausen zu ebener Erde samt Gelegenheit zur Begutachtung allerneuester Performanceblasen.

Maue Bilanz der Anstrengung: Am ganzen Eröffnungswochenende vermochte nur eine einzige Premiere zu überzeugen, weitab vom Kreuzberger Festivalzentrum in Sankt Elisabeth angesetzt, einem ehemaligen Kirchenraum in Berlin-Mitte. Das meditative Ambiente fördert offenbar kreative Konzentration, während die übrigen Auftaktproduktionen abschmierten, ganz egal, ob sie von der betagten US-Pionierin Deborah Hay oder von vergleichsweise jungen Choreografen stammten. Unabhängig von Geschlecht und Alter der Urheber lässt sich festhalten: Die aufmüpfige Avantgarde von gestern ist heute ein Fall für den Staubwedel. Ihr Verfall kann allerdings durchaus interessante Einsichten bescheren.

Die Tanzveteranin Deborah Hay zeigt die Uraufführung "Animals on the Beach"

Das Paradebeispiel lieferte Deborah Hay, beinahe achtzigjährige Vordenkerin des Postmodern Dance und Mittelpunkt einer "RE-Perspective" genannten Werkschau, die das Festival ausrichtet. Hay hat ab den Sechzigerjahren einen Perspektivwechsel angestoßen. Sie musterte choreografische Schablonen aus und ermunterte Tänzer, ihre eigene Wahrnehmung als Werkzeug einzusetzen. Der Ansatz hat die zeitgenössische Ästhetik über Jahre hinweg mit überraschenden Twists bereichert. Aus und vorbei, so der ernüchternde Eindruck, den Hays Installation "Perception unfolds" im Basement der Akademie hinterlässt: vier Leinwände, vier Akteurinnen, vier Mal solipsistisches Zittern, Zaudern, Zagen - ein prätentiöser Leerlauf.

Härter noch fällt der Absturz aus, den Hays Uraufführung "Animals on the Beach" im Haupthaus des Hebbel am Ufer hinlegt. Dabei spannt die Choreografin ein Solo davor, das den spielerischen Zauber ihrer Kunst begreiflich macht. Wenn die weißhaarige Lady höchstpersönlich "my choreographed body... revisited" ausstellt, elegant über die Bühne trippelt und traversiert, die Stirn in Furchen legt, die Augen rollt, dann spricht jede Faser ihres Körpers. Dagegen kriegen die fünf Strandläufer, die unmittelbar anschließend auftauchen, keinen eigenen Ton zustande. Das Quintett ergeht sich in bedeutungs-schwangerem Gefuchtel, einer sklerotisierten Variante Hay'scher Vitalität. Statt originellen Ideen wird artifiziellen Manierismen gehuldigt.

Das Scheitern ist trotzdem aufschlussreich, weil es eine Sackgasse des zeitgenössischen Tanzes illuminiert: Bewegungsforschung hat auf der Bühne nichts mehr zu suchen. Profis dabei zuzuschauen, wie sie sämtliches Können auf Null stellen, um ihr methodisches System zu resetten, mag als pädagogische Studiolektion taugen. Live entfaltet diese Wartungsarbeit nur einschläfernde Wirkung. Bestenfalls fällt noch ein Quäntchen historische Erkenntnis ab, so zumindest bei "Animals on the Beach". Hays Absage an choreografisches Design offenbart sich als Kehrseite und Komplement jener balletösen Neoklassik, deren Hochphase zeitlich damit zusammenfällt. Zudem fordert der Titel den Vergleich mit Merce Cunninghams "Beach Birds" heraus, einer Choreografie, die Hays Mentor 1991 herausbrachte. Dank zeitloser Attraktivität und technischer Erdung ist Cunninghams Opus fürs Überleben weitaus besser gewappnet als das faunische Strandspektakel, made in Berlin.

Reichlich retroselig geriert sich auch Nicola Gunns "Piece for Person and Gettoblaster". Der Auftritt erinnert an boulevardeske Hau-Drauf-Dramaturgien, bestens bekannt aus allerlei Fernsehformaten und heute noch von der "ZDF-Heute-Show" liebevoll kultiviert. Statt Politik hat die Performerin allerdings Kunst auf dem Kieker, namentlich Events der Kollegin Marina Abramović und ähnlicher Kaliber. Im Hitzestau unter dem Hebbel-Dach turnt die Australierin eineinhalb Stunden lang durch ein Pilates-Aerobic-Zumba-Programm - und quasselt dabei auch noch ununterbrochen. Was kardiokonditionell bewundernswert ist, künstlerisch eher weniger. Gleiches gilt für Catherine Gaudets "The Fading of the Marvelous", das fünf Unterhosenträger (m/w/d) durch Technobeats treibt, die sie mit Voguing, Walzer, kindlichem Trotz und ganz viel Slowmotion dekorieren. Womit sich die gefühlte Spielzeit verdreifacht.

Aber dann gibt es doch noch große Kunst: Eszter Salamons Körperdialog mit ihrer Mutter

Ganz anders das Zeitgefühl bei Eszter Salamons "Monument 0.7: M/others" im Kirchengeviert von St. Elisabeth. Fast 100 Minuten dauert das Duo, ohne je zu ermüden. Salamon hat ihre Mutter um einen öffentlichen Körperdialog gebeten: ein Kammerspiel, das Symbiose und Ablösung dekliniert. Drei mal drei Meter misst die weiß bespannte Spielfläche, auf der sich Mutter und Tochter begegnen. Zunächst ohne Sichtkontakt, hocken sie Rücken an Schulter beieinander. Bis sie in einen Bewegungsfluss hineingleiten und zu einem Organismus verschmelzen: Sohle an Sohle, Stirn an Stirn, Kopf im Schoß des Gegenübers, das Gesicht an seiner Schulter geborgen. Unter der Oberfläche dieses harmonischen Wellenspiels findet ein feines Kräftemessen statt, ein Austarieren von Macht, eine Grenzziehung zwischen Ich und Du. Der Fuß, der mit provozierender Langsamkeit ins Gesicht der Tochter wandert, deren Faust wiederum das Knie der Mutter blockiert - Salamon findet ungemein beredte Bilder für das Beziehungsgeflecht. Das ringsum am Boden verteilte Publikum betrachtet sie in atemloser Stille. Beobachtet das wechselseitige Tasten nach Schutz, Geborgenheit und Vertrauen, das jenseits aller Zerwürfnisse wiederkehrt. Die Intimität dieser Vorgänge ist beklemmend und befreiend zugleich. Sie lässt diesen kleinen Abend über sich selbst hinauswachsen, zu großer Kunst.

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Quelle:
SZ vom 13.08.2019
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