Tanz:Schönheitsschlaf

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Szene aus dem Projekt „Dialoge 2020 – Relevante Systeme“ von Sasha Waltz & Guests.

(Foto: Luna Zscharnt)

Das Berliner Festival "Tanz im August" ist dieses Jahr ein Totalausfall. Dafür aber tanzt Sasha Waltz wieder!

Von Dorion Weickmann

Schwarz auf weißem Grund mit umlaufendem Trauerrand, so hat William Forsythe seine choreografischen Anweisungen im Berliner Stadtraum aufgepflanzt: als Din-A3-große Schilder, die Besucher des Festivals "Tanz im August" zu allen möglichen und unmöglichen Leibesertüchtigungen und Architekturexkursionen aufrufen sollen. Allerdings tut kein Passant wie geheißen. Stattdessen erfüllt die "Untitled Instructional Series" betitelte Installation einen ganz anderen Zweck. Ihre Todesanzeigenoptik illustriert unfreiwillig den Zustand des Auftraggebers, der dieser Tage ziemlich scheintot vor sich hinwest. Eine einzige, als "Radioballett" etikettierte Live-Performance hat der bis Ende der Woche währende "Tanz im August" im Angebot: Publikumsanimation unter freiem Himmel, bei der die eigenen Füße entschuht und spätsommerlich strenge Achselgerüche geschnuppert werden - auf Abstand natürlich, wie es die Strategie des Anti-Aerosol-Austauschs gebietet. Alles andere wird online geliefert: Gespräche aus dem Hebbel-am-Ufer-Theater, dessen TV-Kulisse an öffentlich-rechtliches Frühstücksfernsehen erinnert, dazu Talks, Dokus und Analogersatzhandlungen, die von irgendwoher aus den Weiten des Netzes anrollen.

Manches ist unterhaltsam, etwa Jaamil Olawale Kosokos "American Chameleon: The Living Installments" - eine Feier schwarzer Queerness, die als Tutorial mit Beyoncé-Appeal daherkommt. Womöglich stieße der digitale Cocktail auch gar nicht so sauer auf, hätte Festivalchefin Virve Sutinen nicht in einem demonstrativen Akt - "Seht her! Das wollten wir eigentlich machen!" - das Prä-Covid-Programm veröffentlicht. Demnach wäre die "Tanz im August"-Ausgabe 2020 ohne Corona ein attraktives Highlight geworden: von internationalen Gästen beehrt und mit neuesten Arbeiten von Boris Charmatz oder Marcos Morau bestückt. Davon ist nullkommanichts übrig geblieben. Was umso misslicher wirkt, als die "Potsdamer Tanztage" nebenan soeben eine situationsadäquate Redux-Version ihrer Ursprungsplanung umgesetzt haben - inklusive etlicher Live-Formate. Angesichts der nachbarschaftlichen Konkurrenz ist das Kneifen der größeren Berliner Schwester besonders peinlich, zumal sie damit ihre treuesten Anhänger im Regen stehen lässt. Oder glaubt irgendwer, dass redende Köpfe und Videoschleifen für Normalzuschauer als Bühnensurrogat taugen?

Die enttäuschte Klientel tröstet sich derweil zehn Kilometer weiter östlich, im Radialsystem am Spreeufer. Dort wird endlich wieder getanzt, wirklich und leibhaftig: von Sasha Waltz & Guests, siebenundzwanzig Tänzerinnen und Tänzern an der Zahl. Sie treten vor dreihundert Leuten an vier Schauplätzen auf: Wiese, Terrasse, Lagerfläche und Saal des Kunsthauses sind präpariert für "Dialoge 2020 - Relevante Systeme". Unter diesem Titel präsentiert die Choreografin hintereinander weg einen von Solo-Miniaturen gesäumten Geländeparcours, ihren 2013 uraufgeführten "Sacre" und - brandneu - Ravels "Boléro". Die Kreation wird drinnen und draußen gleichzeitig von drei verschiedenen Casts getanzt und setzt dem tödlichen "Sacre"-Fanal eine orgiastische Wiedergeburt entgegen.

Das gilt selbst in der Fassung, die Waltz' erfahrensten, mithin ältesten Mitstreiter gestalten: Monolithische Persönlichkeiten, die im Zusammenspiel filigran und feinfühlig agieren. Derweil flirten die Jüngeren ausgelassen, turteln und wirbeln im Schatten der Bäume, durch die der Sommerwind streicht.

Der Abend legt einen weiten Weg zurück, wandert von monadischen Sisyphos-Bildern, von Steineschleppern und Auf-der-Stelle-Tretern, Gefesselten und Gemarterten zur Leichtigkeit des Seins. Das mag man etwas blauäugig finden. Aber es ist allemal produktiver als der Schönheitsschlaf, den man in dieser Saison getrost bei "Tanz im August" einlegen kann.

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