Tanz:Schamversagen

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(Foto: Filipe Fereira)

Die portugiesische Choreografin Marlene Monteiro Freitas mit einer großartigen Adaption der "Bakchen" von Euripides.

Von Till Briegleb

Wenn Automatenmenschen mit goldenen Badekappen und weit aufgerissenen Augen Notenständer als Gewehre, Paddel oder Stierhörner zweckentfremden, während ein fünfköpfiges Trompetenensemble einen Disco-Satie spielt oder den Doppler-Effekt nachahmt, dann kann man so Euripides-firm sein, wie man will: von dessen "Bakchen" - dem antiken Klassiker, in dem die Mutter ihren Sohn zerreißt, weil Dionysos beleidigt ist, dass Theben ihm nichts opfern will - entdeckt man in Marlene Monteiro Freitas' Adaption des Stücks höchstens noch Hautfetzen.

Was die portugiesische Choreografin in "Bacantes - Prelude to a Purge", das jetzt auf dem Sommerfestival in Hamburg auf Kampnagel Deutschlandpremiere hatte, als "Vorspiel für eine Reinigung" anbietet, ist zwar auch irgendwie irre wie Mutter Agaue, die im Rausch Pentheus den Kopf abtrennt. Aber Freitas' Bacchanal schöpft nichts Erkennbares mehr aus dem bekannten Mythenreservoire. Die herrlich überdreht mittanzende Compagniemutter verknüpft lieber die Arbeiterarmee aus "Metropolis" mit wackelnden Popos aus Rap-Videos, die Geräusche aus Spielkonsolen mit Henry Purcell, das Durchkneten der Gesichter durch Grimassen und Stummfilmmimik mit dem heiligen Ernst des Leistungssports zu einer dadaistischen Collage über das Anderssein. Mal stockend wie Spielzeugroboter, dann wieder rasend wie eine Ecstasy-Party lässt Freitas ihr 13-köpfiges Ensemble Situationen tanzen, die außerhalb der Bühne peinlich wären. Von Rülps-Wettbewerben bis zu übertriebenen Bewegungen, von aggressiver Albernheit bis zur Verkitschung der Hochkultur als Zombietanz, von Louis-Armstrong- und Madame-Butterfly-Parodien bis zum Hitlerbärtchen zelebriert Freitas das Schamversagen. Womit sie sehr nahe am Original arbeitet, in dem anständige Bürgerinnen im kultischen Ausnahmezustand Dinge tun, die so faszinierend entregelt sind, dass ein König sich Frauenfummel anzieht, um ihnen dabei zuzusehen. Wenn dieses wilde Ballett des sympathisch Anormalen erst das Vorspiel zu einer bacchantischen Reinigung ist, dann muss man mit Sorge erwarten, welche Exzesswaschung Dionysia Freitas als Nächstes vorhat. Da will man auf jeden Fall dabei sein, notfalls auch als König.

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