Tanz:Im Schatten des Schornsteins

Movimentos

Geschmeidige Tanzminiaturen – Les Ballets Jazz de Montréal.

(Foto: Matthias Leitzke; Movimentos)

Das Wolfsburger Tanzfestival "Movimentos" hat Renovierungsbedarf.

Von Dorion Weickmann

Die "Autostadt GmbH" besteht aus satten Grünflächen und einer Handvoll modernistischer Gebäude am Wolfsburger Mittellandkanal. Der Freizeitpark ist der PR-Ableger der VW-Zentrale und richtet seit 2003 das Tanzfestival "Movimentos" aus: stets hochkarätig besetzt, stets ausverkauft, gefragt weit über die Region hinaus. 2017 wechselte die Geschäftsführung, 2018 verlor das Festival seine Spielstätte, das historische Kraftwerk von VW. Der Konzern braucht das Gebäude wieder. In dieser Lage hätten die Manager der "Autostadt" beschließen können, die "Movimentos" dichtzumachen und ihr Gelände mit Schlagerknallern und Wellness-Events zu bespielen. Sie waren jedoch klug genug, den Markenwert des Kunst-Formats zu taxieren und festzustellen: Tanzkunst symbolisiert Mobilität und taugt bestens als Imagepolitur für einen Autohersteller.

Im Schatten der vier Schornsteine auf dem vom Dach des Kraftwerks wurde eine Multizweckhalle hochgezogen, die neben den "Movimentos" künftig Konferenzen und Händler-Meetings beherbergen soll. Das "Hafen1" getaufte Gebäude ist 08/15 ausgefallen, aber das Auditorium beschert ein absolutes Déjà-vu: Abgesehen von bequemerem Gestühl ist das Interieur der Industriekathedrale vollständig hergezogen, inklusive rotem Vorhang und schwarzem Bühnenportal. Das mindert die Nostalgie, erhöht aber den Erwartungsdruck: Wird konzeptionell irgendwas Neues geboten?

Fünf Wochen und fünf Gastspiele später lautet der Befund: Nein, und deswegen besteht Renovierungsbedarf. Bernd Kauffmann, Jürgen Wilcke und ein hoch effizientes Organisationsteam bestimmen seit 17 Jahren die künstlerische Linie - länger, als Angela Merkel die Regierungsgeschäfte führt. Die Kanzlerin hat eine Nachfolgekandidatin, das Wolfsburger Kuratoren-Duo nicht. Noch macht das Festival dem Publikum Freude. Doch allmählich muss wohl ein Übergang eingeleitet werden. Dabei ist Kauffmanns Knowhow zu erhalten und zugleich sind neue Köpfe und Ideen an den Start zu bringen, um auch künftig Maßstäbe zu setzen, wie es vergangenen "Movimentos"-Ausgaben dank Gastspielen von Hofesh Shechter, Sidi Larbi Cherkaoui, Wayne McGregor und Crystal Pite gelang.

Künstler dieser Kragenweite wurden 2019 nicht gesichtet, was aufs Konto einer baubedingt verzögerten Planung gehen mag. Gerade die meistgehypten Aufführungen wirkten jedoch blässlich. Das galt schon für die Auftaktchoreografie von Altmeister Édouard Lock. Sein im Auftrag des Festivals montiertes "Trick Cell Play" trieb 14 Tänzer über einen Parcours aus abwechselnd ein- und ausgeblendeten Lichtkreisen. Die Youngsters der São Paulo Dance Company legten zackige Verrenkungen hin, während ein Kammerquintett das zugehörige Klangmenü aus allerlei Opernextrakten zusammenköchelte. Was auch immer der Programmzettel an "Spuren der Erinnerung" und "grenzenlosen Chancen und Gefährdungen" der Gegenwart verhieß - auf der Bühne war nichts davon auszumachen. Auf Lock folgte der größte Durchhänger des Abends, Nacho Duatos geschmäcklerisches "Gnawa", bevor Cassi Abranches' "Agora" endlich mit leichtfüßig lustvollen Tanzelementen verzückte. An hausgemachter Bedeutungshuberei verhob sich auch die zweite aus Brasilien angereiste Truppe, Deborah Colkers Companhia de Dança. Ihr "Dog Without Feathers" entpuppte sich als Schoßhündchen mit Öko-Mission. Die filmische Botschaft im Rücken der Tänzer fiel erheblich stärker aus als ihr trivialer Tribal-Tanz.

Andere Kompanie, gleiches Phänomen: Bei "Orpheus Highway" vom L.A. Dance Project funktioniert das Geschehen auf der Leinwand im Hintergrund, nicht aber die Performance davor. Benjamin Millepieds Filmregie taugt eindeutig mehr als seine Choreografie. Eklatant scheitern auch die unlängst beim Ballet Vlaanderen uraufgeführten "Bach Studies (Part 1)", die Millepied für sein eigenes Kollektiv zurechtgeschnitten hat. Die eher hemdsärmelig agierenden Kalifornier haben ganze Passagen gestutzt und Bachs musikalische Architekturen zum Einsturz gebracht.

Einen besseren, weil bescheideneren Griff taten Les Ballets Jazz de Montréal, deren "Dance Me/Leonard Cohen" Musik des Kanadiers in geschmeidige Tanzminiaturen verwandelte - mal störrisch, mal schnippisch, mal voller Sehnsucht und Tristesse. Regelrechte "Brexit"-Melancholie schien dagegen den britischen Choreografen Russell Maliphant befallen zu haben. Während er frühere "Movimentos"-Editionen mit wundersam raunenden Tanzbildern bestückt hat, reicht es bei "The Thread" nur für einen Schritt-Verschnitt aus griechischer Folklore. Dieser Europa-Abschied schrammt nur knapp am Tourismusmarketing vorbei.

Die "Movimentos" haben ihr Publikum viele Jahre mit Kunst verzaubert und irritiert. Sie sind einzigartig in der norddeutschen Kulturlandschaft und ein Aushängeschild von VW. Dass es 2019 ästhetisch kriselte, ist eine Chance - für die Macher wie für den Mäzen. Sie müssen das Festival zum Teil neu erfinden und dafür auch den einjährigen Planungshorizont entschieden erweitern. Die Tanzkunst hat dafür genug Potenzial.

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