Süddeutsche Zeitung

Graphic Novels zu Tanz:Fixierte Bewegung

Lesezeit: 3 min

Wie kann man Tanz und Choreografien zeichnen? Zwei großartige Comics zeigen es.

Von Dorion Weickmann

Kaum etwas versetzt die Tanzfantasie derart in Schwingung wie das Rätsel vergangener Auftritte. Selbst Ikonen der Moderne wie Isadora Duncan oder Vaslav Nijinsky haben kaum Spuren auf Zelluloid hinterlassen. Keine Kamera hat ihre Choreografien dokumentiert, niemand ihren Tanz für die Nachwelt festgehalten. Über Generationen hinweg wurde die Überlieferung allein von Körper zu Körper weitergegeben. Das gilt auch für die Duncan, deren mythisches Gebärdenspiel zuletzt 2019 auferstand: in Gestalt der Tänzerin Elizabeth Schwarz, künstlerische Urenkelin der Barfußtanz-Pionierin.

Zusehends finden sich historische Tanzstoffe allerdings auch in einem Medium gespiegelt, das sie zu kunstvollen Narrativen verdichtet. Als Graphic Novels verpackt, ziehen sie die Blicke selbst eines ballettfernen Publikums auf sich. Das Genre spinnt nicht nur feine Erzählnetze um seine Gegenstände, sondern koloriert den Zeitgeist ganzer Epochen. Die tanzästhetische Dimension wird in die Spannungsbögen der Rahmenhandlung eingepasst und im Zusammenspiel von Wort und Bild lebendig. Trotzdem bleibt der Abstand zum Theaterereignis evident, weil die flüchtigkeitswirksame Logik des Tanzes aussetzt. Aber die Details seiner Dynamik - Schritte, Posen, Körperhaltungen - lassen sich, auf Papier gebannt, ganz in Ruhe besichtigen. Zumal die Handschrift künstlerisch profilierter Grafiker den Mehrwert garantiert, der Kulturprodukte von Kommerzware unterscheidet.

Isadora Duncans Auto-aggressives Schicksal: Zwei Kinder und später sie selbst starben bei Unfällen

Die besten Beispiele der Gattung kommen aus dem frankophonen Raum, wo Tanz - wie ja auch die Graphic Novel - traditionell höher im Kurs steht als im Rest Europas. Zwei soeben erschienene Bände stehen mustergültig für die Herangehensweisen der meisten Autoren: Die einen kreuzen reale Bezüge mit fiktiven Figuren, die anderen halten sich im Großen und Ganzen ans historische Faktentableau und dessen Personal. Zu dieser Variante zählt "Isadora" aus der Feder von Julie Birmant und Clément Oubrerie, ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht bei Reprodukt in Berlin ( 140 Seiten, 24 Euro, aus dem Französischen von Silv Bannenberg).

In klassischer Comic-Manier wird hier die Lebensgeschichte der Duncan entlang ihrer offenherzigen, 1927 publizierten Memoiren aufbereitet. Ein großes Aufgebot an Liebhabern, Freunden, Feinden und Skandalen säumt die filigran illustrierte Biografie der Amerikanerin, die Tanz und Tunika-Mode am Vorbild antiker Vasenmalereien studierte. Ihre Liaisons mit Berühmtheiten wie Edward Gordon Craig, Paris Singer oder Sergei Jessenin gingen allesamt in die Brüche, sie verlor ihre beiden Kinder bei einem Autounfall und verunglückte selbst Jahre später tödlich in Nizza. Material genug für ein Psychodrama, das "Isadora" auf 154 Seiten ausbreitet: im nostalgischen Sepia-Look, den elegante Textschleifen begleiten.

Reine Fiktion hingegen ist "Tanz!", gerade bei Le Lombard in Brüssel verlegt und bislang nur auf Französisch greifbar ( 248 Seiten, 24 Euro). Was schade ist, denn die Verfasserin Maurane Mazars ist eine Universalbegabung: eine kluge Dramaturgin, wortgewandte Schreiberin, inspirierte Zeichnerin. Mazars' beste Blätter erinnern an Charlotte Salomons melancholisches Panoptikum, und das nicht nur, weil ihre Geschichte im Zweiten Weltkrieg beginnt: mit der Vertreibung einer jüdischen Kleinfamilie aus Nazi-Deutschland nach London und dem Bombardement durch die Luftwaffe. Szenen aus Kurt Jooss' Antikriegsballett "Der Grüne Tisch" legen sich über den Albtraum, der den kleinen Uli durch seine Jugend begleitet. Bis nach Essen, wo er 1957 an der Folkwangschule eine Tanzausbildung beginnt.

Doch der Bär steppt anderswo: Der lebenshungrige Möchtegernkünstler zieht weiter nach Berlin, dann nach New York, wo er die Partyszene entert und am Broadway zu landen versucht. Auch die Liebe begegnet ihm, in Gestalt junger Männer - Jude der eine, Afroamerikaner der andere. Was Schwul- und Schwarzsein in Harlem bedeutet, kapiert Uli erst, als der Lover ihm ins Gesicht schleudert: "Ich will nicht mit Dir sein, und ich kann es nicht."

Irgendwann in den Siebzigerjahren tritt ein ebenso gereifter wie desillusionierter Choreograf namens Uli Rose den Rückweg nach Europa an. Nicht in eine der Metropolen, sondern nach Wuppertal führt sein Weg. Und dort sieht er, sozusagen auf den letzten Metern von "Tanz!", die große Pina Bausch, in "Café Müller". Ein hypnotischer Bilderreigen beschließt das Buch: eine zarte Überschreibung, die das choreografische Original hinter dem Gazeschleier der Erinnerung nur umso intensiver beleuchtet.

Maurane Mazars liefert eine ergreifende Story und streift lauter Fragen, die uns - Stichwort: Black Lives Matter - bis heute umtreiben. Dazu gelingt ihr das Kunststück einer Zeitreise zu den Avantgarden des 20. Jahrhunderts, zu Protagonisten wie Rudolf Laban, Mary Wigman, Kurt Jooss, Alvin Ailey, Pina Bausch. Eine schönere Metamorphose als dieses Buch lässt sich für die Bewegungskunst kaum vorstellen.

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