Süddeutsche Zeitung

Tanz:Düsseldorfer Hängung

"Schwanensee" ist das berühmteste Ballett der Welt - und ein bisschen altbacken. Martin Schläpfer hat es im Düsseldorfer Opernhaus in die Gegenwart übersetzt. Mit fulminantem Erfolg: Das Publikum ist hingerissen.

Von Dorion Weickmann

Alabasterfarben schimmert die Haut. Das schwarze Spitzenkleid darüber glitzert wie das Schuppenkostüm einer Schlange, während das Gesicht höhnisch verkündet: Triumph, Triumph, Triumph! Das giftige Geschöpf hat seine Mission erfüllt, hat die Liebe vernichtet und einen Mann verführt, der einer anderen gehört. Camille Andriot ist Odile, der schwarze Schwan, der den Bund zwischen Odette und dem Prinzen, zwischen der weiß gefiederten Schönheit und dem Menschensohn zerstört. Aber Odile ist weder Odettes dunkle Schwester noch ihre toxische Wiedergängerin. Statt beide Rollen traditionsgemäß ein- und derselben Tänzerin anzuvertrauen, hat Martin Schläpfer sie getrennt. Damit entfesselt der Chefchoreograf des Ballett am Rhein eine Psychodynamik, die von sich aus die Frage aller Fragen beantwortet: Braucht die Welt wirklich noch einen "Schwanensee"?

Peter Tschaikowskys 1877 mit mäßigem, 1895 mit durchschlagendem Erfolg uraufgeführtes Werk ist der Ballettklassiker schlechthin. Zumal die allermeisten späteren Fassungen nur die Tanztrümmer collagieren, die vom zweiten Anlauf übrig blieben. "Nach Marius Petipa und Lew Iwanow" lautet die gängige Formel auf den Besetzungszetteln. Eine mustergültige Rekonstruktion des Originals lieferte Alexei Ratmansky 2016 am Ballett Zürich, Liam Scarlett hat kürzlich beim Royal Ballet London neoromantisch nachgepinselt, Mario Schröder in Leipzig eine queere Lesart des Stoffs gewagt. Phantastische Würfe stammen von Mats Ek, John Neumeier und Matthew Bourne - wieso also hat Martin Schläpfer seinen Ruf aufs Spiel und den "Schwanensee" auf den Spielplan gesetzt? Schließlich hat der Schweizer bislang noch keinen klassischen Repertoireknüller angefasst. Irgendwann aber wuchs ihm die Versuchung über den Kopf, und so nimmt nun im Düsseldorfer Opernhaus das Wunder seinen Lauf.

Plötzlich ist man in der Welt von Meghan und Harry

Martin Schläpfer bricht das historische Eis auf dem "Schwanensee" mit zeitloser Ästhetik. Gemeinsam mit dem Ausstatter Florian Etti, den unter Axel Kober brillant musizierenden Düsseldorfer Symphonikern und seiner phänomenalen Kompanie gelingt ihm die Revision eines abgegriffenen Museumsstücks. Die Entscheidung, Odettes 1877 ausgebreitete, zwanzig Jahre später jedoch aus dem Libretto getilgte Familiensaga wieder in die Erzählung einzubetten, erweist sich als goldrichtig. Aus der Tyrannis einer hexenhaften Stiefmutter hat sich das Mädchen einst in die Obhut des Großvaters geflüchtet, der es seitdem am Grund eines Sees notdürftig beschützt. An dessen Ufer verirrt sich der Prinz, der nicht willens ist, eine Vernunftehe einzugehen, wie es der dynastische Ehrgeiz seiner Mutter gebietet. Er verliebt sich in Odette und könnte sie endgültig aus den Fängen der stiefmütterlichen Bedrohung befreien, gerät aber stattdessen selbst in deren Bann. Auf dem Ball, der seiner Brautkür dient, kreuzt die fatale Odile auf - ein infernalisches Wesen, dem er verfällt. So bricht er den Treueschwur, den er Odette gegeben hat. Die Betrogene muss sterben, der Betrüger folgt ihr in den Tod.

Die Welt, in der Martin Schläpfer dieses märchenhafte Geschehen ansiedelt, ist eine Monarchie des 21. Jahrhunderts. Die Kleider sind Meghan-Markle-Style, der Prinz ein Wiedergänger von Prinz Harry, die Umgangsformen bei Hofe freundschaftlich, zumindest in Abwesenheit der Königin (Virginia Segarra Vidal). Die Aristokratin setzt alles daran, das Ererbte zu erhalten. Der Mutter-Sohn-Konflikt um Pflicht und Neigung, den Schläpfers Inszenierung hier thematisiert, könnte auch jeden Unternehmer-Clan zerfressen. Spiegelbildlich dazu sieht sich Odette zwischen Großvater und Stiefmutter eingeklemmt. Nur geht es an dieser Front nicht um Territorien oder Marktanteile, sondern um Seelenheil oder -hölle des Mädchens.

Der Adelsclique im Palast, den Florian Etti mit leeren Bilderrahmen in Petersburger Hängung und trutzigen Pfeilern möbliert, stellt Schläpfer die Grausamkeit der Natur gegenüber. Die Stiefmutter und ihr Handlanger Rotbart hausen in einem riesenhaften Gebilde, kieselrund wie ein monströses Spinnennest. Die Verderberin alias Young Soon Hue gleicht denn auch einem Insekt, wenn sie sich samt Gefolge zuckend und ruckend über die Bühne schiebt, wenn ihre Fingerkuppen unsichtbare Blitze abfeuern und die Beute niederstrecken. Dass Mütter generell eine gefährliche Spezies sind, kriegt im Übrigen auch der Prinz zu spüren, als er beim Tanz mit der Königin einknickt, von einem einzigen Handgriff gefällt.

Ovationen gehen nieder über dem Schwanensee 2.0

Schläpfers Herren-Ensemble besticht mit rasanter, ungewöhnlich präziser Fußarbeit. Abgesehen von ein paar Anfangsrucklern brauchen auch die Damen keine Konkurrenz zu scheuen. Da wird gewirbelt und gewalzt, dass einem die Augen übergehen. Man mag bedauern, dass Martin Schläpfer sich erst so spät entschließen konnte, eine Geschichte zu bebildern. Tatsache ist, dass er mit nunmehr 58 Jahren das choreografische Handwerk souverän beherrscht und die klassische Linie mit traumhafter Extravaganz ins Zeitgenössische verlängert. Streckungen werden durch angewinkelte Füße, Hände, Arme verfremdet, Hebungen verzögert und komplett entschleunigt, Ornamente auf das Formprinzip zurückgeführt, das ihnen zugrunde liegt.

Und trotzdem bliebe das alles nur ein kluges Konzept, wäre da nicht die einzigartige Tänzerin, die Martin Schläpfer zu seiner Odette gemacht hat. Marlúcia do Amaral ist Ballerina, Schauspielerin, Künstlerin, vor allem aber: eine Frau ohnegleichen. Wenn der Prinz, von Marcos Menha filigran gezeichnet, sie zum ersten Mal in die Arme schließt, geht ein ekstatisches Zittern durch ihren Körper. Ein Anflug nur, eine Andeutung, und doch ist alles gesagt. Das Lachen, das über ihre Züge fliegt, trägt das Glück der ganzen Welt in sich. Und der Schmerz, dem sie zuletzt begegnet, fährt ihr wie ein Martyrium durch Mark und Bein. Der Funken, der Können in Kunst verwandelt - er flackert in jedem Fingerzeig, jeder Kopfneigung, jeder Hüftdrehung dieser Tänzerin.

Am Ende zieht sie willentlich den stiefmütterlichen Todesstrahl auf sich. Den Großvater, der sie so lange beschützt, schiebt sie beiseite. Er überlebt, und mit ihm die Hoffnung auf ein bedingungsloses Liebesband, das Kinder und Kindeskinder vor dem Bösen bewahrt. Vor Spinnen und schwarzen Schwänen, die sich in jungen Seelen einnisten. Die Ovationen, die über dem Düsseldorfer "Schwanensee" niedergehen, sind verdient. Er ist eine Offenbarung.

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Quelle:
SZ vom 11.06.2018
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