"Tanz im August":Comics aus Fleisch und Blut

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Vielleicht der Höhepunkt des diesjährigen Festivals: "Underdogs" von Anne Nguyen. (Foto: Patrick Berger)

Das Berliner Tanz-Festival bespielt die Freiluftbühnen der Stadt - auf denen inszenatorische Stärken wie Schwächen noch klarer sichtbar werden als sonst.

Von Dorion Weickmann

Für komplette Entwarnung ist es zu früh, biegt der Berliner "Tanz im August" doch gerade erst auf die Zielgerade ein. Aber bis hierher lief das Festival wie am Schnürchen: ohne Corona-Absagen, ohne Wetter-Abstürze. Das Pech schlug stattdessen 300 Kilometer weiter nordwestlich zu, beim Sommerfestival in Hamburg. Statt mit einem Wundertütenprogramm - vier Stücke, vier hippe Choreografinnen - auf Kampnagel aufzulaufen, musste das Ballet national de Marseille zurück ins Hotel. Trotz hundertprozentiger Impfquote legten zwei Corona-Fälle die Truppe am Tag nach der Anreise lahm. Damit ging nicht nur eine hochkarätige Deutschlandpremiere flöten, sondern auch die Laune in den Keller: Die Pandemie, so die niederschmetternde Botschaft Richtung Berlin, ist noch nicht vorbei. Für den Kulturherbst heißt das: Warm anziehen!

Vorerst gilt bei "Tanz im August" noch das Gegenteil. Festivalchefin Virve Sutinen und das veranstaltende Hebbel-am-Ufer-Theater haben Schauplätze unter freiem Himmel gebucht, verteilt über die ganze Stadt. Das Freiluftlabor funktioniert wie ein Lackmustest: Ästhetische Luftigkeit vaporisiert dort blitzschnell, streng durchkomponierte Choreografien gewinnen dagegen an Attraktivität und Substanz.

Anne Nguyens Inszenierung berauscht das Publikum bis zum kollektiven Knock-out

In diesem Sinn erwies sich Anne Nguyens "Underdogs" in der lauschigen Freilichtbühne Weißensee als Auftakt nach Maß. Ringsum wild wuchernde Wiesenkräuter und üppiger Baumbestand, mittendrin eine Spielfläche samt Zeltdach - ein Idyll, das die französischen "Underdogs" mit kräftigen Hip-Hop-Strichen durchkreuzten. Zwei Männer und eine Frau balancieren sechzig Minuten lang über den Abgründen des Ghettoalltags, der in den Banlieues von Paris kaum anders aussieht als in L.A. oder Detroit. Nguyen bindet den Breakdance zurück ans Milieu seiner Entstehung, an die schwarze Subkultur der Metropolen. Soul, Funk und Reggae heizen ein, bevor sich die Choreografie auf Zeitlupentempo herunterdimmt, um Mord und Totschlag, Vergewaltigung und Erschießung in quälende Körperbildstrecken zu übersetzen: Comics aus Fleisch und Blut.

2005 aus den Martial Arts in den Tanz eingewandert, zählt Nguyen zur Avantgarde des Fachs. Ihre ebenso sinnlichen wie sensitiven Inszenierungen berauschen das Publikum bis zum kollektiven Knock-out. Dabei arbeitet die Choreografie mit ikonischen Leitmotiven, etwa der Knarre in Kinderhand oder der Freiheitsstatue, die in der Bucht vor New York genauso herumsteht wie an der Seine in Paris. Tapfer klebt Sonia Bel Hadj Brahim aka Miss Liberty auf der Stelle, die Erleuchtungsfackel in den Himmel gereckt, während Arnaud Duprat und Pascal Luce sich neben ihr schier die Köpfe einschlagen.

Das Gegenmodell mit viel Text, viel Impro-Wirbel und vielköpfiger Spielschar wuchtet Constanza Macras in die Parklandschaft namens "Gärten der Welt", im tiefsten Lichtenberg gelegen. Mit "Stages of Crisis" liefert die Choreografin einen Märchencocktail im Glitzer-Look: hysterisch überdreht, tänzerisch verzappelt und quatschverliebt bis zum Abwinken. Von Postkolonialismus bis Flugscham haut Macras mit dem Konzepthammer auf alle angesagten Soziokomplexe drauf - wobei statt Pointen allenfalls blaue Flecken fürs Krisentheater herausspringen. "Stages of Crisis" rehabilitiert den Guckkasten als ideales Gehäuse für Macras-Produktionen, was angesichts der eineinhalbstündigen Show dann doch ein eher mickriger Ertrag ist.

Die Geisterstunde im HAU zieht sich, weil der Postkolonialismus im Postkartenformat daherkommt

Tatsächlich ist auch bei "Tanz im August" die postkoloniale Schiene mit Arbeiten von Choy Ka Fai, Radouan Mriziga und Dorothée Munyaneza recht gut bestückt. Munyanezas "Mailles" entpuppt sich als poetisches Gespinst aus Tanz, Sprache und Gesang, das die Volksbühne in einen panafrikanischen Zaubergarten verwandelt. Der aufgelassene Kirchenraum von Sankt Elisabeth rahmt "Ayur", ein magisches, der Mondgöttin Tanit gewidmetes Solo, das die tunesische Tänzerin Sondos Belhassen zum Leuchten bringt. Keine Bewegung gleicht der nächsten, selbst die grauen Haarsträhnen scheinen im Takt zu wippen. Radouan Mrizigas zeichenhafte Choreografie entfesselt einen Gedanken- und Gefühlsstrom, der die Zeit vergessen macht.

Eher strapaziös dagegen der Aufenthalt bei Choy Ka Fai, dem in Berlin lebenden Künstler aus Singapur. Er darf sein ausgeprägtes Styling-Talent bei der dreiunddreißigsten Festivalausgabe gleich doppelt unter Beweis stellen: mit "Postcolonial Spirits" im Hebbel am Ufer-Haupthaus und mit der Installation "CosmicWander: Expedition" in der ehemaligen Kindl-Brauerei. Die Geisterstunde im HAU zieht sich, weil der Postkolonialismus im Postkartenformat daherkommt, als queeres Tänzchen und interkontinentaler Pas de deux, der per Fernschalte zwischen Europa und Fernost bestritten wird. Was fehlt, ist der gute alte V-Effekt, der das Kolonialspektakel auf Abstand bringen und dem Auge des Betrachters eine Detox-Kur verpassen könnte.

Kommendes Wochenende endet der Berliner "Tanz im August", mit Stephanie Thierschs polymorph besiedeltem "Archipel" und Milla Koistinens coroneskem "Breathe". Outdoor natürlich, wo niemand ohne Antimückenspray aufschlagen sollte. Irgendwann wird man auf diese Festival-Edition im Ausnahmezustand zurückschauen und feststellen: Sie war ganz proper. Keine schlechte Bilanz in pandemischen Zeiten.

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