Mit Spitzenschuh und Bandoneon:Sinneskitzel

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Glitzersirene im Rampenlicht: Ruga Nagakawa in "Libertango". (Foto: Nicha Rodboon/Nicha Rodboon)

Nancy Osbaldeston choreografiert Tangos von Astor Piazzolla - und verbindet europäische Formstrenge mit südamerikanischem Temperament.

Von Dorion Weickmann

Aus und vorbei. Die Frau im roten Satinkleid zuckt mit den Schultern. Der Mann, dem sie gerade noch eine Szene gemacht hat, ist in der Kulisse verschwunden. Aber wozu soll sie Trauer tragen, das Leben geht weiter! Schon dreht sie sich um zu den vier Musikern, die auf ihr Zeichen warten - lässiger Hüftschwung, ein Arm saust Richtung Bühnenhimmel, und dann trägt der Tango sie durchs Dunkel der Nacht. Sein zackiger Rhythmus kitzelt die Sinne so unwiderstehlich, dass selbst die Füße der Zuschauerin zucken. Astor Piazzollas "Libertango" ist der Inbegriff des Tango Nuevo, ein Befreiungsschlag, der sein champagnerperlendes Timbre über fast fünf Jahrzehnte konserviert hat. Jetzt krönt er eine choreografische Session, die Nancy Osbaldeston als Digitalformat fürs Ballet Vlaanderen entworfen hat: Sechs Piazzollas am Stück, und der final furiose "Libertango" liefert zugleich den Titel des Abends, der sich bis 22. Januar unter https://operaballet.be/nl/het-huis/shop abrufen lässt, zum Ticketpreis von 5 Euro.

Osbaldeston ist auch in München keine Unbekannte. Mehrfach hat sie als Gaststar das Bayerische Staatsballett beehrt, künstlerisch beheimatet ist sie beim experimentierfreudigen Ballet Vlaanderen in Antwerpen. "Libertango" ist Osbaldestons erste größere Choreografie und beeindruckt dennoch auf Anhieb: mit Witz, Tempo, süffigen Szenen sowie einer Melange aus europäischer Formstrenge und südamerikanischer Temperamentswallung. Der Mix wird selbst Tango-Aficionados überzeugen, die zunächst geneigt sind, den gemeinsamen Auftritt von Spitzenschuh und Bandoneon für Ketzerei zu halten. Osbaldestons Schrittkunst etabliert ein geradezu geschwisterliches Verwandtschaftsverhältnis zwischen Tango und Ballett: Beide schwelgen in Eleganz, kultivieren ornamentalen Reichtum und ein Körpergefühl, das bis in die feinsten Kapillaren ausstrahlt - und passen deshalb hervorragend zusammen.

Im Übrigen reiht sich Osbaldestons Wurf ein in die Serie überaus gelungener Auftragswerke, die unter Corona von weiblichen Newcomern geliefert wurden. So punktet derzeit Arielle Smith auf der Digitalbühne des English National Ballet mit der Musical-Hommage "Jolly Folly", Anjali Mehra hat für die New Adventures Company ein Hörspiel von Sylvia Plath zur gespenstischen Tanzsonate verdichtet, auch beim Stuttgarter Ballett tat sich insbesondere der Ballerinen-Nachwuchs kreativ hervor. Ein Trend, der sich mit "Libertango" bestätigt und hoffentlich dafür sorgt, dass Frauen in Zukunft bessere Chancen bei der Saisonplanung der Tanzdirektionen bekommen.

Herrliches Kampf-Couple: Brent Daneels und Lara Fransen. (Foto: Nicha Rodboon/Nicha Rodboon)

Allerdings hat Nancy Osbaldeston auch großes Glück mit den sieben Kolleginnen und Kollegen, die sie neben sich selbst in "Libertango" besetzt hat. Ihr zur Seite beschwört James Waddell die romantische Leidenschaft mit allen Höhen und Tiefen, Brent Daneels und Lara Fransen geben dagegen ein herrliches Kampf-Couple ab und Ruka Nakagawa glänzt als geschmeidige Glitzersirene im Rampenlicht. Am Ende, wenn der Bandoneon-Virtuose Dirk van der Harst den "Libertango"-Rausch veredelt, drehen alle acht Tänzer in lockerer Turnierformation ihre Runden: Tanzkunst zum Dahinschmelzen.

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