Tagesthemen im Quotentief:Am Zuschauer vorbei

Erstmals droht der Marktanteil der "Tagesthemen" unter zehn Prozent zu rutschen. Ausgerechnet die Vorzeige-Nachrichtensendung wird zum Opfer der misslungenen ARD-Programmreform. Das Urteil der Zuschauer: altbacken, kleinteilig, "quälende Kommentare". Der geplante Ausweg aus der Misere: noch eine Reform.

Hans-Jürgen Jakobs

Punkt 20 der Tagesordnung hatte es in sich, und das Alarmzeichen, das der ARD-Chefredakteur dabei gab, konnte wirklich nicht überhört werden.

Tagesthemen im Quotentief: Löste Anne Will ab: die neue "Tagesthemen"-Moderatorin Caren Miosga.

Löste Anne Will ab: die neue "Tagesthemen"-Moderatorin Caren Miosga.

(Foto: Foto: dpa)

Erstmals drohe der Marktanteil der "Tagesthemen" "unter die Grenze von zehn Prozent zu rutschen", warnte Thomas Baumann. Die Entwicklung sei "bedenklich", assistierte Thomas Hinrichs, der Vize-Chefredakteur von ARD-Aktuell.

So wurde auch dem Letzten in der heiligen Runde der ARD-Chefredakteure, die sich Anfang November in Mainz versammelt hatte, klar, was die Stunde geschlagen hat.

Ausgerechnet die "Tagesthemen", die Vorzeige-Nachrichtensendung am Abend, könnte das Opfer der fehlgeschlagenen Programmreform von Anfang 2006 werden.

Die war eigentlich dazu auserkoren gewesen, dem enteilten Rivalen "heute-journal" vom ZDF den Rang abzulaufen.

Doch der miese Trend hielt an. Von 12,9 Prozent in 1995 fiel der Marktanteil der "Tagesthemen" kontinuierlich auf nunmehr 10,0 Prozent in 2007.

Zählt man nur von Montag bis Donnerstag, waren es per Oktober bedenkliche 9,9 Prozent. Da hilft auch nicht, dass die Konkurrenz der Sendung "heute-journal" - dessen Moderator Claus Kleber vom Spiegel jüngst sogar für befähigt gehalten wurde, die Chefredaktion der Zeitschrift zu übernehmen - im Jahr 2007 insgesamt noch stärker eingebüßt hat; der Abstand wurde also etwas kleiner, mit absolut 12,0 Prozent liegen die Newsleute vom ZDF allerdings nach wie vor weit vorn.

Kurz vor dem 30. Geburtstag am 2. Januar 2008 zeigt sich bei den "Tagesthemen", dass die Abwärtsbilanz aufs Jahr gerechnet noch nicht gestoppt ist. Noch ist die ARD-Sendung ein Krisenfall: Zum einen wurden innerhalb weniger Monate die Moderatoren - Tom Buhrow für Ulrich Wickert sowie Caren Miosga für Anne Will - ausgetauscht.

An die Neuen mussten sich die Zuschauer gewöhnen. Zum anderen änderten die ARD-Granden andauernd das Programmschema, mit dem Ergebnis, dass die "Tagesthemen" am Mittwoch nun erst um 23 Uhr starten - lange nach dem Stammtermin um 22.15 Uhr. Und: Der Stil der Sendung kommt beim Publikum nicht mehr wie gewünscht an.

Am Zuschauer vorbei

"Die Tatsache, dass wir an sieben Tagen fünf verschiedene Anfangszeiten haben, macht unsere Aufgabe nicht leichter", erklärt die ARD-Aktuell-Chefredaktion auf Anfrage.

Tagesthemen im Quotentief: Tom Buhrow, der vormalige Leiter des ARD-Studios Washington, löste Ulrich Wickert als "Tagesthemen"-Moderator ab.

Tom Buhrow, der vormalige Leiter des ARD-Studios Washington, löste Ulrich Wickert als "Tagesthemen"-Moderator ab.

(Foto: Foto: WDR/Visser)

Im Dezember immerhin lägen die "Tagesthemen" vor dem "heute-journal", und aufgrund des verringerten Abstands müsse man ja davon ausgehen, dass das Duo Buhrow/Miosga gegenüber den ZDF-Moderatoren besser abgeschnitten habe.

In ihrer Not haben die ARD-Verantwortlichen bereits im August rund 100 Zuschauer zu jeder werktäglichen Ausgabe der "Tagesthemen" befragt. Das Resultat der Auswertung, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt, spricht eine deutliche Sprache:

Die Bewertung der Beiträge variiere beim Publikum sehr stark, immer wieder habe der einzelne Nachrichtenfilm das Publikum nicht besonders angesprochen und nicht das geleistet, was sich die Macher am meisten wünschen: Emotionalität, Orientierung und Nutzwert. Der überbordende Einsatz von Fachbegriffen wurde kritisiert, der Einsatz von Fallbeispielen gefordert.

Generell sahen die Zuschauer "einen gewissen Entwicklungsbedarf in Bezug auf die Anmutung der Sendung", resümiert ein ARD-Papier und führt auf, was gemeint ist: "lebendige, emotionale Ansprache". Weitere Folgerung: "Erkennbar ist ein Bedürfnis nach ausführlicherer Behandlung der zentraleren Themen", also nach mehr Hintergründen.

Das interne Dokument hält fest, dass 60 Prozent die "Tagesthemen" früher am Abend sehen möchten. 26 Prozent wollen eine längere Sendezeit sowie eine lockere Moderation. Überhaupt: 24 Prozent glauben, die ARD-Newssendung solle "lockerer" werden. Im Vergleich kam das "heute-journal" des ZDF besonders bei Frauen besser an.

Locker vom Hocker: Schlechte Noten erhielten etwa Beiträge über den Koalitionsausschuss sowie über den Auftritt des Außenministers Frank-Walter Steinmeier in Brandenburg - was Sigmund Gottlieb, den Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks, erkennbar nervte.

Die politische Berichterstattung zähle zu den originären Aufgaben der "Tagesthemen", meinte er, diese könne man nicht einfach reduzieren, nur, weil man sich Emotionaleres wünsche. Der ein oder andere Prozentpunkt weniger bei den Marktanteilen müsse hingenommen werden. Es gebe ja auch einen "Wertschätzungsindex", nicht nur einen "Quotenindex".

Am Zuschauer vorbei

Auch ARD-Aktuell-Chefredakteur Kai Gniffke legte Wert aufs öffentlich-rechtliche Profil. RTL habe zugelegt, weil der Privatsender den Politikanteil in der abendlichen Nachrichtensendung weiter gesenkt habe. Das wolle man nicht - darin war sich die Mainzer Runde der ARD-Chefredakteure schnell einig.

Gniffke und sein Stellvertreter Hinrichs nennen auf Anfrage zwei wichtige Erkenntnisse aus der Studie: Die Zuschauer möchten "gutgemachte Beiträge, die Betroffenheit auslösen", und sie wollten zusätzlich zu den wichtigsten Tagesereignissen "auch Themen sehen, von denen sie noch nichts gehört haben".

Reicht das, um das hausgemachte Desaster mit den "Tagesthemen" vergessen zu machen? Die Führung von ARD-Aktuell kritisierte jedenfalls in der internen Sitzung eine gewisse "Kleinteiligkeit" - und dass häufig Stücke "zwangsweise" aufgenommen werden, da sie noch zu einem aktuellen Kommentar produziert werden müssten.

Diese Kommentare - derzeit noch ein Pflichtstück für jede Ausgabe - seien an Tagen, an denen sich kein Thema anbiete, richtig "quälend", befand Andreas Neumann von Radio Bremen in der ARD-Runde. Und der routinierte Hauptstadtbüroleiter Ulrich Deppendorf fragte, ob wirklich 60 Personen auf der Kommentarliste stehen müssten. Besser sei, sich auf 15 bis 20 meinungsstarke Journalisten zu beschränken.

Dann erörterten die ARD-Chefredakteure noch die Notwendigkeit von mehr und besserer Recherche, sie redeten über Kreativität und Phantasie, über eine bessere Mannschaft fürs Hauptstadtbüro sowie über einen Reporterpool, den man pflegen müsse. Aber wann hat die ARD nicht über solche Ideen geredet? Daran fehlt es ebenso wenig wie an staatstragend aussehenden Mitarbeitern, die ihr Kommentargesicht gern bei den "Tagesthemen" in die Kamera halten. Nur: Passiert ist wenig.

Nun soll der Patient einer Operation unterzogen werden. WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn soll intern Druck machen, eine Kerngruppe von zehn Leuten sich um die Reform kümmern.

Keine Frage: Die ARD will im Jahr ihres 30. Jubiläums die Wende bei den "Tagesthemen" schaffen - und erarbeitet derzeit einen "Maßnahmenkatalog". Die Chefredaktion von ARD-Aktuell werde Vorschläge machen, "wie die Qualität der Beiträge beziehungsweise der gesamten Sendung weiter hochgehalten werden kann", formulieren die ARD-Spitzenjournalisten Gniffke und Hinrichs. Und versprechen: "keine Hinwendung zum Boulevard".

Das Konzept wird wohl auf den Erkenntnissen der Zuschauerstudie und auf der bemerkenswerten Mainzer Chefdiskussion basieren. Auf jeder Sitzung wollen die ARD-Chefredakteure nun über die "Tagesthemen" reden. Das haben sie sich fest vorgenommen. Und nun: Das Wetter!

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