Süddeutsche Zeitung

Tagebücher von Fritz J. Raddatz:Ich, Ich, Ich

Bis zum beruflichen Herzinfarkt: Die Tagebücher des "Zeit"-Feuilletonisten Fritz J. Raddatz dokumentieren den Kulturbetrieb der alten Bundesrepublik als eine Welt, die an eine Vorhölle erinnert.

Ch. Schmidt

Das wichtigste Requisit ist das private Adressbuch. Immer wieder findet es Erwähnung in den Tagebüchern des Feuilletonisten und Schriftstellers Fritz J. Raddatz aus den Jahren 1982 bis 2001. In diesem Adressbuch ist verzeichnet, wer welche Rolle spielt in der Endlos-Fortsetzungsserie "deutscher Kulturbetrieb". Die Serie selbst bedient das Genre der Farce, als begnadeter Schaumschläger schreibt Raddatz: "Ich schwamm auf meiner eigenen Seifenoper".

Doch die Besetzung verändert sich nur in einer einzigen Hinsicht: Sie wird beständig kleiner. Von Jahr zu Jahr gilt es, wieder ein paar Namen und Telefonnummern zu streichen, und es ist nicht nur der biologische Tod, der die Reihen lichtet, sondern auch der soziale Tod. Wenn Raddatz sein Adressbuch durchsieht, nimmt er die Sense in die Hand; jeder Abtrünnige, dessen Name getilgt wird, ist für ihn gesellschaftlich gestorben.

Das Schwärzen der Namen gleicht der Unterschrift des Monarchen unter einem Todesurteil, es ist eine zutiefst autokratische Geste. Zunehmend nur noch symbolisch beschwört sie die Macht eines Feudalsystems herauf, als welches man sich das deutsche Kulturleben jener Jahre vorstellen muss. Es sind eine Handvoll Männer - Grass und Enzensberger, Rudolf Augstein und Rolf Hochhuth die wichtigsten -, welche die Deutungshoheit innehaben und wie Burgherrn die intellektuelle Landschaft unter sich aufteilen.

Eine Gesellschaft, die an ihrer Enge erstickt

Der Verlag bewirbt Raddatz' Buch zutreffend als Gesellschaftsroman der Bundesrepublik, aber es ist der Roman einer geschlossenen, durch und durch inzestuösen Gesellschaft, die an ihrer Enge erstickt und doch glaubt, mit Deutschland identisch zu sein. Beklemmung und Klaustrophobie sind die vorherrschenden Gefühle bei der Lektüre.

Raddatz schildert eine Welt, die an eine Vorhölle erinnert und deren Insassen sich hingebungsvoll gegenseitig zerfleischen. Und er sieht nicht nur mit gellender Schärfe, wie sich eine Elite in eine beißwütige "Lemurenversammlung von has-beens" verwandelt, er weiß auch genau warum, und bei diesem Warum fragt man sich, ob Dekadenz ein anderes Wort ist für innere Leere.

Immer wieder benutzt Raddatz die Spiegelmetapher, um seine Begegnungen mit den Protagonisten des kulturellen Lebens zu beschreiben: Keiner hört zu, keiner hat die Bücher oder die Artikel des anderen gelesen, alle reden nur von sich selbst, jeder sein eigener Lautsprecher und verbale Niagarafall, das Ganze "eine erstarrte Ich-Ich-Ich-Feier". Im Grunde sind all diese Treffen karrieristisch motiviert, es geht darum, den eigenen Marktwert zu ermitteln und seinen Platz in der Hackordnung zu verteidigen.

Es sind Distinktionskämpfe, und da wird selbst der Streit um das einzige Taxi zu einer Statusprobe. Mit dem Satz "Ich bin eine Berliner Institution!", geht schließlich Otto Sander als Sieger vom Platz. Einmal wundert sich Raddatz: "Das ist schon ein seltsames Land, in dem selbst die experimentellen Dichter Landhäuser und die Avantgardisten Zweitwohnsitze haben".

Natürlich ist Raddatz, der selbstverständlich davon ausgeht, dass ihm der Bundeskanzler zum 70. gratuliert, und der eine Rolle von Geldscheinen in der Hosentasche für die bessere Erektion hält, selbst das beste Beispiel für die Anmaßung, Geist und Geld auf sich zu vereinen. Hinter seiner Haltung "einer muss ja der Teuerste sein" lauern aber auch immer die Panik und die Paranoia des Hochstaplers, der sein Auffliegen kommen sieht. Ein Dandy möchte er sein, subversiv und elegant, ein Luxusgeschöpf, aber links, "nicht einer dieser Stubenhocker-Literaten (und dennoch nicht dümmer als die), sondern Sport und Bordeaux und im offenen Porsche durch die Pyrenäen und Knaben und Frauen ...".

Der Preis des Champagners als Spiegel des eigenen Wertes

Je größer die innere Leere, desto wichtiger werden Äußerlichkeiten, um die Selbstzweifel niederzuringen. In den Tagebüchern spielen quantifizierbare Größen die tragenden Rollen, denn alles, die Höhe der Gagen, die Größe der Häuser, der Preis des Champagners ist ein Gradmesser und das Selbstwertgefühl eine permanente Rechenaufgabe, der Rest, der übrig bleibt, wenn man von den Einnahmen die Ausgaben abzieht. Und hinter allem die Ahnung, gehasst zu sein und abgelehnt, früher oder später kalt gestellt zu werden. "Ich bin das 4. Programm" schreibt Raddatz über seine gefühlte Marginalisierung.

1985 wurde Fritz J. Raddatz, der neun Jahre lang Feuilletonchef der Zeit gewesen war, tatsächlich vom Thron gestoßen - seinen Sturz sah er schon zwei Jahre zuvor voraus. Das Datum ist zufällig, und doch ist Raddatz' "beruflicher Herzinfarkt", wie er das nennt, signifikant für das Ende einer Epoche, die so fremd erscheint wie das Pleistozän und deren Protagonisten uns so fern sind wie Dinosaurier. Vorbei sind nicht nur die Zeiten der ungebrochenen Laufbahnen, in denen man sein ganzes Berufsleben lang für einen einzigen Arbeitgeber tätig war und bis zur Rente unaufhaltsam höher stieg.

Vergangenheit ist auch der Personenkult und die damit einhergehende Autoritätshörigkeit im gesellschaftlichen Diskurs. Unvorstellbar wäre es heute, dass einige wenige Stimmen in einer einzigen Zeitung die intellektuelle Öffentlichkeit monopolisieren könnten. Diese Öffentlichkeit war irgendwann tautologisch geworden, bestand nur noch aus Selbstzitaten, ein hypertrophes Soziotop, das umkippen musste - und sie war zu klein, um eine größer gewordene Welt noch fassen zu können.

In den achtziger Jahren fiel nicht nur die Mauer, es wurde auch das Privatfernsehen eingeführt, der Historikerstreit gab dem Feuilleton ein völlig neues Gesicht, und der junge Journalismus formiert sich in Organen wie Tempo. In den zwei Jahrzehnten, die Raddatz' Tagebücher umfassen, sind viele Grenzen gefallen, zwischen Ländern und politischen Systemen, aber auch technologische, soziale und kulturelle Grenzen. All das zusammen nennt man Globalisierung, und sie ließ die einst große Welt des deutschen Feuilletons zu einer unbedeutenden Provinz schrumpfen. Mittlerweile hat es sich längst geöffnet, damals aber konnte Fritz J. Raddatz der Enge nur räumlich entfliehen, nach Paris und New York und immer wieder in seine Sylter Wohnung.

FRITZ J. RADDATZ: Tagebücher, Jahre 1982-2001. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 944 Seiten, 34,95 Euro.

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Quelle:
SZ vom 18.09.2010/ls
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