Tagebuch aus Gaza:Vier Wochen Angst

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Nor Abu Khater hat die Angriffe auf den Gazastreifen überlebt. "Nachts denke ich immer über die vielen Menschen nach, die jetzt tot sind." (Foto: Peter Münch)

"Es ist Wahnsinn, wie viel zerstört ist": Vergangene Woche erzählte die in Münster aufgewachsene Nor Abu Khater über ihre ausweglose Flucht vor dem Krieg in Gaza. Nun ist sie wieder mit ihrer Familie vereint.

Von Peter Münch, Tel Aviv/Khan Junis

Vier Wochen lang haben die Kämpfe getobt, nun schweigen endlich die Waffen. Nor Abu Khater, 32, die in Münster aufgewachsen ist und in Khan Junis im südlichen Gazastreifen lebt, hat unzählige Stunden der Angst durchlebt. Mit ihrem Mann Mussa und den drei kleinen Kindern war sie ständig auf der Flucht vor den Bomben und Granaten. Erst sind sie bei Verwandten untergeschlüpft, dann bei fremden Menschen.

Tagebuch aus Gaza
:"Wir beten, dass es jetzt Frieden gibt"

Nor Abu Khater ist in Münster aufgewachsen, seit 1999 lebt sie im Gazastreifen. Ihr Leid ist unvorstellbar. Unser Korrespondent versucht, täglich mit ihr zu sprechen. Ein Protokoll.

Von Peter Münch

Vor einer Woche hat die SZ ihre Berichte aus den Kriegstagen veröffentlicht. Nun folgt die Fortsetzung, protokolliert zunächst wieder bei Telefongesprächen und dann bei einem Besuch in Khan Junis. Hier, im Haus der Eltern, hat die Familie am Ende wieder zusammengefunden. Alle sind erschöpft und immer noch verständnislos erschrocken über das, was über sie hereingebrochen ist. Doch vor allem sind sie erleichtert. Sie haben überlebt.

1. August: Israel und die Hamas haben einer 72-stündigen Waffenruhe zugestimmt, die von Freitagmorgen an gelten soll. Nor meldet sich am frühen Vormittag, als alle noch voller Zuversicht sind.

"Wir beten, dass es jetzt Frieden gibt. Die vorige Nacht war noch einmal ganz schlimm, alle zehn Sekunden ein Einschlag. Wir liegen auf dem Boden und haben kein Auge zugetan. Die Kinder sind alle krank und haben Durchfall.

Wir sind immer noch bei der fremden Familie, aber wenigstens sind Mussa und meine Mutter jetzt auch hier. Mein Vater und meine Brüder schlafen auf der Straße.

Wir wollen heute rausgehen und schauen, ob unser Haus noch steht. Es weiß ja keiner, wie es da aussieht. Hoffentlich bleibt es jetzt ruhig."

2. August: Die ausgehandelte Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas hält nur neunzig Minuten. Danach entbrennen wieder neue Kämpfe - und die sind noch härter als zuvor.

"Es ist leider nicht so gekommen, wie wir uns das vorgestellt hatten. Ich kann jetzt draußen wieder die Explosionen hören. Ich hätte nie gedacht, dass wir einmal in eine solche Situation kommen.

In den anderen Kriegen haben wir wenigstens Wasser gehabt. Seit Tagen schon kommt nichts mehr aus der Leitung. Strom gab es nur eine Stunde, heute Nacht um drei Uhr. Da wollten dann alle ihre Handys aufladen, wir sind ja 50 Leute hier.

Es gibt nirgendwo mehr Platz. Aber dass uns die Menschen hier aufnehmen, das findet man auch nicht überall. Wenn ich ein großes und sicheres Haus gehabt hätte, dann hätten zu mir auch alle kommen können.

Gestern war ich kurz einmal draußen, weil ich eine Flasche Wasser für die Kinder besorgen wollte. Ich habe die Rakete richtig hören können, die auf mich zukam. So schnell, wie ich konnte, bin ich weggelaufen. Zum Schutz habe ich mir die Hände über den Kopf gehalten. Ein Stein hat mich dann noch am Rücken getroffen und einer am Bein. Der Knöchel ist ganz dick geschwollen. Es ist nicht so schlimm, dass es gebrochen ist, vielleicht ein Bänderriss, das hatte ich schon einmal. Aber ins Krankenhaus brauche ich gar nicht zu gehen, da ist alles total überfüllt."

3. August: Israel zieht einen Großteil der Bodentruppen aus dem Gazastreifen ab. Von der Luft aus werden die Angriffe allerdings fortgesetzt, auch die Hamas beschießt israelisches Gebiet weiter mit Raketen.

Nor ist nicht zu erreichen.

4. August: Die letzten israelischen Bodentruppen verlassen den Gazastreifen. Die Armee erklärt, das Hauptziel der Operation sei erreicht, die unter der Grenze hindurch gegrabenen Tunnel seien zerstört worden. Das Bombardement aus der Luft geht weiter, ebenso das Raketenfeuer.

"Der Knöchel schmerzt, und wir haben nicht einmal eine Salbe. Ich habe mir ein Tuch drum gewickelt, mehr geht nicht.

Als die Soldaten weg waren, sind wir wieder ins Haus meiner Eltern gezogen. Auf dem ganzen Weg nach Hause waren Trümmer zu sehen. Es ist Wahnsinn, wie viel zerstört ist. Aber immerhin sind wir jetzt wieder hier. Auch mein Vater und meine Brüder sind gekommen. Jeder hat bestimmt noch einmal vier oder fünf Kilo abgenommen in der letzten Woche."

5. August: Um acht Uhr morgens tritt wieder eine 72-stündige Waffenruhe in Kraft, der Israel und die Hamas zugestimmt haben - und diesmal hält sie. Es wächst die Hoffnung auf ein Ende des Krieges. Doch es beginnt auch die erste Aufarbeitung.

"Mein Bruder Osama tut mir sehr leid. Sein bester Freund ist bei einem der Angriffe gestorben. Sie sind gerade mit der Schule fertig geworden und haben so vieles zusammen geplant. Sie haben davon geträumt, im Ausland zu studieren.

Am Anfang sind noch 2000 Leute zu den Beerdigungen gekommen, am Ende nur noch ganz wenige. Einmal gab es auch einen Angriff bei einem Begräbnis ."

6. August: In Kairo laufen Verhandlungen über eine längerfristige Waffenruhe. Im Gazastreifen beginnen die ersten Aufräumarbeiten. Nor humpelt ins Wohnzimmer der Eltern und setzt sich auf einen Plastikstuhl. Die Familie ist wieder weitgehend versammelt. Ihr achtjähriger Sohn Kais liegt mit der Tochter Haja auf einer Matte am Boden. Sie spielen mit dem Handy, es hat wieder Strom gegeben. Das zwei Monate alte Baby schläft neben ihnen. Schweigend sitzt Nors Vater in der Ecke. Aufgetischt wird ein Streuselkuchen, den die Mutter draußen im Tonofen gebacken hat.

Gazastreifen nach der Waffenruhe
:Alltag in Trümmern

Was steht noch, was ist zerstört? Die Menschen, die im Gazastreifen leben, nutzen die Waffenruhe, um nach ihren Häusern zu sehen. Sie kämpfen sich durch die Verwüstung, die der Krieg hinterlassen hat - und beginnen vorsichtig mit dem Wiederaufbau.

"Wir haben wieder Wasser. Stell dir vor, zum ersten Mal seit zwei Wochen konnten wir uns wieder richtig waschen. Mussa ist zu unserer Wohnung im Haus seiner Eltern gegangen. Er sagt, im Wohnzimmer ist das Fenster mitsamt Rahmen rausgeflogen - von der Druckwelle, als eine Rakete bei den Nachbarn eingeschlagen ist. Es gibt Risse in der Wand, in der Küche ist das Porzellan zerbrochen. Im Stockwerk über uns ist es noch schlimmer. Ich habe Angst, dass der dritte Stock auf uns drauffällt. Wenn ich wieder richtig laufen kann, muss ich mir anschauen, ob man da noch wohnen kann.

Nachts denke ich immer über die vielen Menschen nach, die jetzt tot sind. Ich frage mich dann, wie sie gestorben sind, ob sie Angst gehabt haben, ob sie Schmerzen hatten. Sie tun mir alle so leid. Ich schaffe es nicht einmal mehr, den einen Krieg zu vergessen, bevor der nächste anfängt."

© SZ vom 08.08.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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