1000 Tage YouTube:Schwamm in der Bilderflut

Tausend Tage YouTube: Im scheinbar chaotischen Bilderwirbel des Netzes ist eine einfache Idee zum globalen Phänomen geworden. Wie das Internet-Filmportal zum Gefäß und Werkzeug der visuellen Kultur wurde.

Christian Kortmann

Eine Website ist zum Reflex geworden: Wer etwas im Fernsehen verpasst hat oder ein seltenes Musikvideo sehen will, sucht sie auf. Aber auch für Amateurfilmemacher oder Musiker ohne Plattenvertrag ist die Clip-Produktion erst abgeschlossen, wenn der Film bei YouTube hochgeladen wurde. Dass er nur selten viele Zuschauer findet, spielt keine Rolle, Hauptsache, er ist greifbar.

Bulldogge auf Skateboard

Posterboy des YouTube-Phänomens: die skateboardende Bulldogge.

(Foto: Foto: www.youtube.com)

Meist wird er zum Teil des gewaltigen Bodensatzes der Abermillionen von Artefakten, die unentdeckt bleiben, weil sie sich im plebiszitären Selektionssystem der "Most Discussed"-, "Top Rated"- und "Most Viewed"-Clips nicht durchsetzen und niemals an die Oberfläche dringen.

Die Website www.youtube.co wurde am heutigen Montag vor tausend Tagen, am 15. Februar 2005 als Domain von drei jungen Amerikanern angemeldet. Wenig später, im Mai 2005, war der erste Clip zu sehen, "Pajamas and Nick Drake", in dem die Katze des Mitgründers Steve Chen zu einem Song von Nick Drake mit einem Gummiband spielt.

Bis heute haben den Clip nicht viele Menschen gesehen, hauptsächlich wohl Chens Freunde, Geschäftspartner und Investoren, die mal gucken wollten, welche gloriose Web-2.0-Idee da um ein paar Millionen Dollar Finanzhilfe anklopfte.

Mittlerweile zählt YouTube mit 196 Millionen Seitenaufrufen pro Tag zu den meistbesuchten Websites überhaupt. Vor einem Jahr wurde die Firma für 1,6 Milliarden Dollar an Google verkauft, wo neben der dominanten Informationssteuerung nun auch ein Monopol über die Bewegtbildsortierung heran wächst. Denn wie die Suchmaschine ist YouTube innerhalb kurzer Zeit zur selbstverständlichen kulturellen Praxis geworden.

Die Internetvideo-Verwaltungs-Website - um ihre Funktion mal ganz nüchtern zu beschreiben - stieß auf fruchtbaren Boden, sie wurde über Nacht zum großen Gefäß einer visuellen Kultur, die so ein Werkzeug lange ersehnt hatte, ohne sich darüber im Klaren zu sein. Denn im 20. Jahrhundert, als alle möglichen neuen Bildmedien Triumphe feierten, entwickelte das Publikum eine Kennerschaft, die sich meist mit passiver Leidenschaft begnügen musste.

Jetzt gibt es ein öffentliches Archiv und eine Bilder-Spielwiese: Durch YouTube ist nicht nur eine genaue Betrachtung vormals transitorischer Fernsehereignisse möglich geworden, sondern auch die Einspeisung von bearbeitetem oder selbst geschaffenem Material durch das Publikum. YouTube fiel wie ein Schwamm in die Bilderflut.

Weltweit werden audiovisuelle Kleinigkeiten produziert und gesendet, aus denen nur wenig bemerkenswerte Momente herausragen. Über die vielen Klagen von Film- und Fernsehsendern gegen Urheberrechtsverletzungen sollte man nicht vergessen, dass das Publikum sich mit den Bilderbörsen im Netz auch gegen den kulturindustriellen Druck wehrt, womöglich etwas verpasst zu haben. So bietet YouTube eine minütlich aktualisierte Best-of-Kompilation der Ausschnitte, die gerade Tagesgespräch sind.

Eine Katalogisierung wirkungsmächtiger Bilder ist um so bedeutender, da sie längst auch für die vermeintlich nichtvisuellen Künste konstitutiv sind: Der Schriftsteller Rainald Goetz hat sich 1983 beim Vorlesewettbewerb in Klagenfurt die Stirn aufgeschnitten? Das hat man oft gelesen, aber viele haben es auf YouTube zum ersten Mal gesehen.

Neben der Archivierung der Highlights kommerzieller Bilderproduktion besteht die größere Triebfeder beim märchenhaften Aufstieg des Mediums Internetvideo im Originalmaterial von Amateuren. Hier wird eine kollektive Kreativität deutlich, die der Clipkultur eine große Zukunft verspricht. YouTube ist die Schnittstelle für eine im Übermaß vorhandene Technologie - nie gab es mehr Kameras als heute, in Mobiltelefonen werden sie einem aufgedrängt - sowie ein Portal für die aus jahrelangem Bilderkonsum entstandene Lust, selbst bewegte Bilder herzustellen.

Produktiv und respektlos wird mit dem kollektiven Gedächtnis gearbeitet, in dem Bilder und ihre Nacherzählungen längst elementar sind. Man denke nur an die Mondlandung: Im Grunde staunen wir immer noch darüber, dass wir diese Bilder tatsächlich sehen konnten.

Schwamm in der Bilderflut

Von der Filmindustrie wird YouTube abgelehnt und gleichzeitig umarmt: "The marketing guys love YouTube, the legal guys hate it", wie in Variety zu lesen war. Ein Urheberrechtsstreit mit dem amerikanischen Sender NBC brachte YouTube einen frühzeitigen Popularitätsschub ein. Der Fall illustriert Dialektik und Ambivalenz im Verhältnis der alten hegemonialen Kulturindustrie zum Wildwuchs der vom Nutzer generierten neuen.

Denn nur wenige Monate später schlossen NBC und YouTube einen Kooperationsvertrag ab: Die "Marketing-Typen" des Fernsehsenders hatten die "Justiziar-Typen" überzeugt, dass es keine bessere Werbung beim jungen Publikum gibt als die Präsenz im Netz.

Wie spielt die Katze?

Während Copyright-Verletzungen immer noch für grelle Schlagzeilen sorgen, wurden hinter den Kulissen längst Allianzen beschlossen: Die Musikindustrie, namentlich Warner, EMI, Sony und Universal, will YouTube als Archiv für Musikvideos nutzen, des Clipkultur-Pioniergenres.

Zudem dürfen die User Songs der Kooperationspartner als Soundtracks für ihre Filme benutzen - der Markt macht sich die Anarchie der Bilder zu eigen: So gehören etwa die professionellen Musikvideos der Sängerin Rihanna, die vielfach und unter allen populären Schlagworten eingestellt werden, zu den erfolgreichsten Clips bei YouTube.

Angesichts dieser Annäherung an traditionelle Sehgewohnheiten steht die Frage im Raum, ob YouTube sich mit leistungsfähigeren Leitungen und Computern zum Internetfernsehportal wandeln wird oder ob eine genuine Clipkultur bestehen bleibt. Die Beschränkung der Filmlänge auf zehn Minuten und 58 Sekunden ist eine Stärke des Mediums, weil sie zum bewussten Umgang mit der Ressource Aufmerksamkeit zwingt.

YouTube ist zudem einfach zu handhaben, jeder kann die Clips auf seiner eigenen Homepage einbauen oder selbst Filme hochladen. Trotz der enormen Materialmenge bleibt die Website an der Oberfläche übersichtlich: Die randvoll mit Bildern gefüllten Schluchten sind wie unter Falltüren verborgen.

YouTube pflegt eine Konsenskultur, die auf Hardcore-Sex und dokumentierte Gewalttaten verzichtet. Mit entscheidenden Ausnahmen: Bei den Hinrichtungsvideos von Saddam Hussein, die im Januar 2007 im Netz auftauchten, zeigte sich, wie die Allverfügbarkeit der Bilder auch zum Politikum werden kann.

Die Wahrheit der Bilder ist überprüfbarer geworden und zugleich einer größeren Bandbreite an technischen Manipulationen ausgesetzt. Aber auch die Verantwortung für die Bilder wird auf immer mehr Schultern verteilt. So spielt sich der Wahlkampf um die amerikanische Präsidentschaft in diesen Tagen auch bei YouTube ab: Die Bürger antworten mit Filmen auf die Spots der Kandidaten, für die Politiker ist das ein extralanges TV-Duell mit dem Volk.

Weil YouTube den Markt für ein mediales Filtersystem und die Kommunikation qua Clip erkannt und vergrößert hat, baut das Unternehmen derzeit nationale Netz-Dependancen mit einem regionalen Angebot auf. Das klingt nach einem Rückfall vom WorldWideWeb in Kleinstaaterei, ist aber die konsequente Fortsetzung des Pajamas-Prinzips aus jenem ersten Clip mit der Katze: 65 000 neue Videos werden pro Tag hochgeladen und 100 Millionen Clips angeschaut; der Großteil der User ist zwischen 12 und 17 Jahren alt, eine bildergierige Jugend, die die Zukunft bedeutet. Auch in einer globalisierten Welt interessiert sie sich am meisten dafür, wie ihre Katze spielt, was also in ihrer Region in ihrer Sprache geschieht.

Eine gewisse Verbindlichkeit, die die Menschen einst bei der Mondlandung vor den wenigen Fernsehgeräten versammelte, wächst also auch im scheinbar chaotischen Bilderwirbel des Netzes nach.

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