Tage Alter Musik:Die Beschattung des Messias

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Es gibt einige Gründe, Martin Luther nicht bedingungslos zu verehren. Doch um die Musik hat er sich verdient gemacht. Darum rücken die "Tage Alter Musik" in Regensburg das Reformationsjubliäum ins Zentrum.

Von Kristina Maidt-Zinke

Es war fast unheimlich: Genau in dem Augenblick, als der britische Bass Jonathan Sells in seiner Arie aus Händels "Messias" dort angekommen war, wo die biblische Weissagung ein "großes Licht" verheißt, fiel die Abendsonne so ins Kirchenfenster, dass der Mann wie von einem himmlischen Spot erfasst und geblendet wurde. Wenige Takte später, beim "Schatten des Todes", schob sich eine schwarze Wolke vor den Strahl und verdunkelte den Sänger. Kein professioneller Beleuchter hätte es besser machen können. Aber die Regensburger "Tage Alter Musik" sind auf technische Effekte nicht angewiesen: Hier scheint man seit 33 Jahren mit freundlichen Mächten im Bunde zu stehen, die auch mal Lichtspiele gratis liefern.

Natürlich erklangen die Worte des Propheten Jesaja auf Englisch, denn es handelte sich ja um einen originalen "Messiah", und zwar im doppelten Sinn: Das von Jonathan Sells geleitete Barock-Kollektiv "Solomon's Knot" brachte die Dubliner Fassung zu Gehör, also die Version, in der das Oratorium im April 1742 in mehreren karitativen Einrichtungen der irischen Hauptstadt aufgeführt wurde, noch bevor Händel es im Londoner Konzertbetrieb etablieren konnte. Dass das Stück dann rasch zu einem der populärsten Werke der abendländischen Vokalmusik aufstieg, ist bekannt. Und obwohl die informierte Aufführungspraxis auch hier längst die Patina weggeputzt hat, ist es bei vielen Gelegenheiten als klangschöne, doch zuweilen etwas langatmige Nummernrevue in Erinnerung geblieben.

Insgesamt sind zehn Varianten des "Messiah" überliefert, weil der Komponist die Partitur den Gegebenheiten des jeweiligen Aufführungsortes anpasste. Die Dubliner Fassung ist somit nicht "authentischer" als andere, aber sie war, unter anderem, auf eine sparsamere Besetzung zugeschnitten, bei der die Solisten auch den Kern des Chors bilden, was die Virtuosität der noch von Händels italienischen Duetten beeinflussten Chorpartien besonders zur Geltung bringt. Dass man nicht mehr als acht Sänger und ein entsprechend kleines Orchester benötigt, um das Werk darzustellen, ist also verbürgt. Doch was "Solomon's Knot" an dramatischer Spannung, tänzerischer Eleganz und emotionalen Farben aus dem ehrwürdigen Oratorium herausholte, war unerhört im wahrsten Sinne: Wie Intimität und Transparenz hier jeden Pomp überflüssig machten, wie sich das Heilsgeschehen als fesselnde Erzählung verlebendigte, dazu noch komplett auswendig vorgetragen - das riss die Zuhörer am Ende buchstäblich von den Sitzen.

Ohne Pomp, aber intim und transparent. Die Zuhörer riss es von den Sitzen

Es ist die Häufung solcher Höhepunkte an historischen Spielstätten, die den Ruf des Regensburger Pfingstfestivals in alle Welt getragen hat. Die internationale Alte-Musik-Szene liebt es, hier aufzutreten, und nimmt dafür bescheidenere Honorare in Kauf (und man sollte bedenken, wie wenig bei all den hochkarätigen und hochmotivierten Ensembles für jeden Einzelnen übrig bleibt, selbst bei zahlungskräftigeren Veranstaltern). Die ehrenamtliche Organisation und die nahezu vollständige Finanzierung durch Eintrittskarten (zu moderaten Preisen) sind im deutschen Kulturbetrieb längst Legende. Dass das Durchschnittsalter des Publikums inzwischen fast doppelt so hoch ist wie das der Musiker, mag kurios erscheinen, gerade weil sich die sogenannte Alte Musik hier stets neu als die innovativste und mitreißendste von allen erweist. Aber viele Fans kommen nun einmal seit Anbeginn.

Programmschwerpunkte inhaltlicher Art ergeben sich bei diesem Festival eher zufällig. In diesem Jahr war das Angebot nicht, wie man hätte vermuten können, durch den 450. Geburtstag Claudio Monteverdis geprägt, dafür aber durch das Reformationsjubiläum. Es gibt Gründe, Martin Luther nicht bedingungslos zu verehren, doch um die Musik hat er sich wunderbar verdient gemacht: Anders als sein asketischer Kollege Calvin wies er der Tonkunst in der moralischen und religiösen Erziehung eine zentrale Rolle zu. Nicht zuletzt deshalb nahm die geistliche Musik im Deutschland des 17. Jahrhunderts, während der Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges und danach, einen beispiellosen Aufschwung.

Der aus Italien adaptierte "stile concertato" verschmolz mit dem deutschen, streng kontrapunktischen Stil. Solokantaten und Streichersonaten jener Epoche gehören zu den ergreifendsten Hervorbringungen deutscher Musikgeschichte - wenn man sie so darbietet wie das international besetzte Ensemble "Masques" aus Kanada. Preziosen von Schütz, Buxtehude, Biber, Schmeltzer und Johann Christoph Bach wurden durch den Geigenton der Australierin Sophie Gent und die sängerische Intelligenz des französischen Countertenors Damien Guillon das, was sie in Wahrheit sind: beseelt und vergeistigt zu gleichen Teilen.

Italien, die große musikalische Inspirationsquelle jener Zeit, wurde hinreißend vergegenwärtigt durch die belgische Band "Scherzi Musicali", deren Chef Nicolas Achten im Stehen die Theorbe schlägt und dazu singt wie ein Cantautore. Dass er auch als Forscher und Entdecker glänzt, bewies das exquisite Repertoire weitgehend unbekannter "Maddalena"-Kompositionen von Antonio Bertali und Zeitgenossen. Wie fern und doch nah die spanische Musikwelt damals dem übrigen Europa war, zeigte "La Grande Chapelle" mit philologischem Spürsinn und nobelster Vokalkunst an geistlicher und weltlicher Musik von Juan Hidalgo. Wo, wenn nicht in Regensburg, kann man an einem einzigen Tag solche Sensationen hören wie die Bachkantaten Nr. 12, 18 und 106, mit grandiosem Tiefgang dargeboten vom französischen Ensemble "Alia Mens", und ein Programm mit Messeteilen und Madrigalen des Renaissancekomponisten Philipp de Monte, subtil gestaltet von der tschechischen "Cappella Mariana"?

Es wäre noch etwas über das Finale zu sagen, die "Messe zum Reformationsfest Dresden 1617", aus Musik von Heinrich Schütz und Michael Praetorius kompiliert von Roland Wilson, einem Pionier der Aufführungspraxis, mit den Gruppen "Musica Fiata" und "Cappella Ducale". Hier nur soviel: Sie alle haben vor Jahrzehnten jene Klangpracht wieder zum Sprechen gebracht. Was sie jetzt - gereift, aber nicht gealtert - daraus machen, verschlägt einem die Sprache.

© SZ vom 08.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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