Wenn Männer über ihre Kinder schreiben, sind Frauen meistens abwesend. Auch bei Szczepan Twardoch. Das ist ihm nicht vorzuwerfen, auch wenn Frauen über Mutterschaft schreiben, kommen sie meistens ohne die Väter aus. Ausgleichende Gerechtigkeit.
Was aber bei Twardoch, der seit seinem Roman "Morphin" in Deutschland fast so viel gelobt wurde wie in Polen, noch eine andere Note reinbringt: In seinem Schlesien-Roman "Drach" war der Sohn noch ein Schwein. Da heißt es: "In seiner tiefsten, unter dem Instinkt verborgenen Klugheit weiß das Schwein, dass es in die Erde zurück muss, aus der es geboren ist." Die Menschen hingegen wüssten zu viel, um zu verstehen. So sagt es die alles gebärende, alles verschlingende und alles registrierende Erde, die im Roman als Erzählerin auftritt. Das Schwein wisse weniger, drum verstehe es "die Wahrheit des schlagenden Herzens und die Wahrheit des Beils" besser.
So ist das auch mit dem Sohn, mit dessen Geburt "Wale und Nachtfalter", Twardochs "Tagebuch vom Leben und Reisen", in einer innigen, introvertierten Szene einsetzt: "Mein Sohn liegt da, mit weit geöffneten blauen Augen, aus denen er schaut, obwohl er angeblich nichts sieht." Angeblich! Tatsächlich habe nämlich schon Platon gewusst, dass die "Seele" dieses Kindes noch den großen Zusammenhang versteht, bevor es Mensch, also auf Sprache angewiesenes Mängelwesen wird und ihn nach und nach vergisst.
Kind, Schwein, Baum, Reh - alles das Gleiche, die Erde gibt's, die Erde nimmt's
Wird ein Vater im Angesicht seines neugeborenen Kindes philosophisch, ist das erst einmal rührend. Aber das Wörtchen "angeblich" verrät, worum es eigentlich geht. In die eben doch nicht intime Situation schieben sich die "Anderen" mit ihren Behauptungen. Damit sind zwei große Themen von "Wale und Nachtfalter" auf dem Tisch: Die Frage nach dem Verstehen, das Twardoch vom Wissen ab- und mit der Fähigkeit, lebendig zu leben, gleichsetzt, und die Kritik an diesen "Anderen", die sich schlichten Wahrheiten wie diesen verschließen: Kind, Schwein, Baum, Reh - alles das Gleiche, die Erde gibt's, die Erde nimmt's, that's it.
Twardochs Autor-Ich liebt es, Gesetze im alttestamentarischen Gestus zu formulieren. Literatur "soll" eine Geschichte sein, die Angst macht. Eine "wahre" Reise müsse etwas von "edlem Überfluss" haben. Oder: "Tausend, eine Million, hundert Millionen Leichen, das ist der Mensch." Solche Gewissheiten führen dazu, dass der Text unlebendig wirkt, ausgenommen die Dialoge mit dem Sohn und einer rothaarigen Frau, die leitmotivisch durch den Text geistert. Das sind vereinzelte Wirklichkeitssplitter in einem ansonsten statischen Welt-Bewältigungs-Text, der unwahrhaftig wirkt, obwohl so viel von Wahrhaftigkeit die Rede ist. Das fängt schon damit an, dass Twardoch suggeriert, im Gegensatz zu den Romanen spreche hier der Autor selbst, ohne die Membran der Fiktion. Im Text trifft man aber auf ein sich feinsinnig gebendes, aber doch ziemlich hemdsärmlig urteilendes Ich, das als heroisch am Schreiben leidender Poet inszeniert wird, der sehr männlich als einsamer Wolf durch die öde Tundra der Gegenwart streift und sich seine Gedanken macht.
Formal haben wir es eher mit einem Jahres- als einem Tagebuch zu tun. Von 2007 bis 2015, beziehungsweise von der Geburt seines ersten Sohnes bis zur Imagination des eigenen Todes, entwirft Twardochs Erzähler zu jedem Jahr Vanitas-Denkbilder wie den von toten Faltern bedeckten See. Zunächst sind die Einträge kurz und wirken dadurch stark, wie der Einstieg oder auch eine Episode, in der es um eine Reise nach Barentsburg und die Frage nach der Wahrheit von mündlich tradierten Geschichten geht. Anschaulich, klug und gut ist erzählt, dass es auf ihren Einklang mit dem Zeitgeist ankommt, der die Fakten unbewusst verändert und so die eigentlichen Verhältnisse sichtbar werden lässt.
Twardoch triggert die konservative Sehnsucht nach dem Schicksal
Was möchte Twardoch sichtbar werden lassen in seinen zunehmend in Traumwelten ausufernden Reflexionen, wenn er etwa von der "geheimnisvollen Weisheit der Obdachlosen" schreibt und schnell relativiert, seine "Rührseligkeit" sei nur ein Panzer "gegen das Unglück fremder Menschen"? Ist es die Figur des Misanthropen und seine geistige Verwahrlosung, um die es ihm geht? Ist es die Struktur des "Pilzgeflechts", als das er seine sesshafte Existenz wenig plausibel in Abgrenzung zur migrantischen definiert?
Vieles an diesem Buch ist interessant. Zum Beispiel, dass es die Überlegung anstößt, ob Szczepan Twardoch in Polen mit seinen Romanen so großen Erfolg hat, weil sich darin beide Seiten wiederfinden können: die PiS-Anhänger genauso wie die Vitalismus-Anhängerinnen aus dem linken Spektrum. Twardoch triggert mit der Thematik der zerrissenen schlesischen Seele und der tiefen Verwurzelung im blutgetränkten Boden der Region auf der einen Seite die konservative Sehnsucht nach Schicksal. Er lässt sein Ich an der "Welt ohne Form" verzweifeln, in der alle "völlig allein und gleich, leblos und frei" lebten, in der es keine "Ekstase und keine Verzweiflung" mehr gebe, nur noch "angenehme, angewärmte Tristesse". Man kennt solche Formeln.
Twardoch meint wohl, er stünde als Medium der Gleichzeitigkeit der Zeiten über all dem politischen Gedöns. Anders als etwa Paulus Böhmers mit ähnlich totalem Anspruch angelegter Versgesang "Zum Wasser will alles Wasser will weg" läuft Twardochs geschichtsphilosophisch angehauchte Erd- und Ewigkeits-Verehrung aber ins Leere, nämlich in die Ungenauigkeit. Vielleicht, weil sich seine Überzeugung, den Weltenlauf besser als andere zu durchschauen, vor allem aus Verachtung speist. Er selbst gesteht, er sei "ein Mensch, der sich fürchtet". Mitleid muss man mit solchen egozentrischen Angsthasen nicht haben, sie kompensieren ihre Furcht mit Geboten. Literarisch läuft das auf Männlichkeitskitsch hinaus.
Szczepan Twardoch : Wale und Nachtfalter. Tagebuch vom Leben und Reisen. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin, 256 Seiten, 24 Euro.