Süddeutsche Zeitung

Szczepan Twardochs Roman "Demut":Rauschhafte Unterwerfung

Der polnische Literatur-Star Szczepan Twardoch und sein so tollkühner wie kluger Underdog-Roman "Demut".

Von Christoph Bartmann

Der polnische Romancier Szczepan Twardoch schafft in seinen Romanen einen bemerkenswerten Spagat. Auf der einen Seite stellt er den Wunsch einer großen Leserschaft nach spektakulären historischen Bilderbögen zufrieden, auf der anderen gibt er eigenwilligen (und in Polen oft auch provozierenden) Überlegungen zu Politik, Nation und Klasse Raum. Twardoch-Leser bekommen das erforderliche Quantum an sinnlicher Überrumpelung verabreicht, das sie geduldig genug bleiben lässt für die subtileren Gangarten des Autors. So ist es auch in "Demut", seinem neuen Roman, einem tollkühnen Ritt durch die Wirren des vorletzten Nachkriegs, erzählt entlang der Figur eines oberschlesischen Leutnants namens Alois Pokora (auf Deutsch: "Demut").

Twardochs Stil ist dabei immersiv, expressiv, ja ekstatisch, aber zugleich auch kühl, kontrolliert und präzise. Schon mit dem ersten Satz ist der Ton gesetzt: "An dein Gesicht denke ich, wenn am schwarzen Himmel, noch tief über dem Horizont, der erste weiße Stern aufblinkt." Der Stern ist ein Schrapnell, der Himmel wölbt sich über Flandern, und am Horizont ist die Front. Wir sind im Krieg, aber es geht um eine Frau. Der Leutnant verzehrt sich im Schützengraben in unerfüllter Liebe zu Agnes, seiner Göttin und Herrin, die ihn quält, so gut sie kann. "Die Geometrie deiner Züge, tief in mein Hirn gebrannt, tiefer als die Gesichter meiner Eltern."

Auf der Handlungsebene wird großes Actionkino geboten

Twardoch trägt gerne dick auf, das aber mit großer Konsequenz und einem Plan. Auf der Handlungsebene wird großes Actionkino geboten (Twardochs viel gelobter Roman "Der Boxer" ist nicht zufällig als "King of Warsaw" bereits zu einer Fernsehserie geworden), zudem werden jedoch auch mit einiger Ernsthaftigkeit kulturelle und politische Probleme erörtert. Bei Twardoch begegnen sich auf interessante und seltene Weise das "Autoritäre" des Stils und das "Liberale" der Reflexion.

Um mit dem Zweiten anzufangen: Es geht um Vorgänge, die einen konkreten historischen und sozialen Hintergrund haben. Es geht, wenn man will, um Mentalitätsgeschichte, um überindividuelle Erfahrungen von Demütigung, Erniedrigung und Nichtzugehörigkeit. Erfahren und erlitten hat sie Pokora als Bürger und Soldat des Deutschen Reiches und Vertreter der schlesischen Minderheit mit schlesischer ("wasserpolnischer") Muttersprache. Als Nichtdeutscher und Nichtpolen mit proletarischer Abstammung wurde Pokora von klein auf gehänselt und verachtet.

Die Diskriminierung hat in ihm das Gefühl genährt, auf immer ein Niemand zu sein, den alle anderen drangsalieren dürfen. Dieser oberschlesischen Grundverfassung des "Underdog"-Seins, sprachlich, sozial, politisch und hier auch sexuell, widmet der Oberschlesier Twardoch breiten Raum. Zwar wird seinem Protagonisten (aus Gründen, die erst spät offenbar werden) eine höhere Bildung zuteil, Pokora studiert noch vor dem Krieg Philosophie in Breslau, aber sein ganzes Tun und Denken umkreist, wie Twardoch nicht müde wird zu zeigen, die Wunden einer frühen Verletzung.

Aber natürlich ist Pokora nicht nur der arme Kerl, für den man ihn halten könnte. Es schlägt in ihm, wie bei früheren Twardoch-Figuren, vielmehr auch das Herz eines Boxers. Zur geradezu rauschhaften Selbsterniedrigung seines Helden tritt ein robuster Verteidigungswille. Gerade wenn man nichts und niemand zu sein glaubt, tun sich im Krieg, der im Roman auch nach dem Krieg nicht aufhört, reiche Verwendungsmöglichkeiten auf. Pokora, weltkriegsgestählt und mit zwei Eisernen Kreuzen dekoriert, wird sich als Haudegen nützlich machen. Mehr tot als lebendig, stürzt er sich nach Kriegsende als Zufalls-Spartakist in neue Scharmützel, konsumiert mit neuen Freunden viel Kokain, erlebt dank queerer Genoss*innen sein sexuelles Erwachen und tritt in einer Schlüsselszene bei der Roten Volksgarde sogar Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gegenüber.

Deren etwas routinierte Ausführungen über die Revolution unterbricht Pokora, indem er die verdutzten Vordenker über die politische Macht des Nichts- und Niemandseins aufklärt. Er sei, so Pokora "in meiner Gesellschaftsklasse völlig entfremdet und in keiner höheren, überhaupt keiner anderen angekommen. Herausgerissen aus dem Dorf, verpflanzt in die Städte, wo ich nie Wurzeln schlug. Herausgerissen aus Schlesien, verschlungen vom Krieg" - Pokora empfiehlt sich den Genossen als die "reine Anomie", unsolidarisch, klassenlos, aber kampfbereit.

Stationendrama sexueller Irrtümer

Worauf will Twardoch hinaus? Dass es für die wahrhaften Deklassierten niemals einen "Klassenstandpunkt" geben kann? Aber könnte Pokora seinen Kampf um Würde nicht in den Dienst einer größeren Sache stellen? So weit kommt es nicht, Pokora entgeht um Haaresbreite seiner Exekution durch Freikorpsmänner und wird daraufhin selbst ein Freikorpsmann, wobei auch dieses Engagement nicht von Dauer ist. Gerettet hat ihn ein deutscher Aristokrat und Herrenmensch, mit dem er einst in Gleiwitz die Schulbank drückte und der eine homoerotische Neigung zu Pokora hegt. Das aber nur im Geheimen, denn eigentlich will der Freund, wie er sagt, die Schwester von Rittmeister Theweleit ehelichen.

Rittmeister Theweleit? Hat Twardoch etwa Theweleits "Männerphantasien" gelesen? Das Tolle am Roman ist, dass man diesem Autor alles zutraut, also Kitsch, Klischees, Pathos, grelle Effekte und Übertreibungen - aber dann eben auch eine Theweleit-Lektüre. Es geht ja in diesem Roman ganz zentral um soldatische Körper und erotische Fantasien. Nur ist sein Held eben kein deutscher Mann, der nach dem Krieg als Freikorpskämpfer in eine neue Rüstung gegen imaginierte Weiblichkeiten geschlüpft ist (wenn wir Theweleits Interpretation folgen wollen).

Dieses auch wieder pathologische Ein-deutscher-Mann-Sein (oder auch Ein-polnischer-Mann-Sein) ist ihm verwehrt, weswegen sich Pokoras Geschichte auch als ein Stationendrama anderer sexueller Irrtümer begreifen lässt. Erst ist er eine Art "Incel" - ein unfreiwillig zölibatär lebender Mann - in sadomasochistischer Abhängigkeit von einer Domina, dann lässt sich Pokora mangels Alternativen auf transgressive Abenteuer ein, um schließlich im Hafen der heteronormativen Kleinfamilie zu landen, aus dem ihn aber das alte Unterwerfungsbegehren alsbald wieder vertreibt. Pokoras einziger wirklich aktiver Einsatz gilt der eigenen Unterwerfung - aber ist das auch noch ein Reflex seiner Herkunft aus einer unterdrückten sozialen Schicht? Vielleicht haben die Genossen von der Roten Volksgarde ja recht, als sie kritisieren, Pokoras Blick auf die Weltrevolution lasse sich zu sehr von Individualpsychologie leiten. Das könnte auch für Twardochs Roman selbst gelten, der sich nicht entscheiden will (und muss), ob er nun großes Fantasiekino bieten will oder eine tiefer reichende Gesellschaftskritik.

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