SZ-Serie: Was ist Heimat?:Kann Europa jemals Heimat sein?

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(Foto: dpa; photocase; Bearbeitung SZ)

Nationalismus und Separatismus drohen heftiger denn je, die EU zu zerreißen. Dabei gäbe es Lösungen: mehr Einfluss für die Bürger - und Literatur.

Von Karin Janker

"Bayern zuerst", "Österreich zuerst", "Frankreich widersetzt sich" - die Wahlkampfslogans von CSU, FPÖ und Front National aus dem zurückliegenden Jahr weisen alle in dieselbe Richtung: Nationalismus wird in Europa gerade wieder stark. "Unser Land, unsere Heimat", druckte die AfD auf ihre Wahlplakate und zog damit in den Bundestag ein.

Die Nähe zwischen Nationalismus und Heimatbegriff ist kein Zufall. Beide scheinen einfache Antworten zu bieten auf schwierige Fragen: Wo ist unser Platz in dieser Welt? Wo gehören wir hin? Wer gehört zu uns? Der Fortschritt der Globalisierung verändert nicht nur die Welt, er verrückt den Ort des Einzelnen. Was liegt näher, als angesichts dieses Verrücktwerdens nach Antworten auf diese Fragen zu suchen? Der Rückgriff auf die Heimat scheint sie zu liefern: Heimat ist dort, wo meine Wurzeln liegen. Dort, wo ich mich nicht erklären muss. Wo die Meinigen sind, die so ähnlich ticken, denken, sprechen wie ich. Eine geographische Einheit, der man sich zugehörig fühlt, und zugleich mehr als bloß ein Ort.

Was ist Heimat?

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So anachronistisch die Idee von Heimat und vor allem Nation angesichts der globalisierten Welt erscheint, in der abgegrenzte Territorien obsolet, Märkte grenzenlos und Migrationsbewegungen unvermeidlich geworden sind, so attraktiv ist sie gerade in diesen Zeiten. Ob in Großbritannien oder Katalonien, überall in Europa geht in den erstarkenden Nationalismus und Separatismus die Suche der Menschen nach dem ein, was sie Heimat nennen, umhegen und abgrenzen können. Das gefährdet die europäische Idee. Im Wettstreit mit den Separatismen ist die EU im Nachteil: Heimat kann gegen sie in Stellung gebracht werden, weil es ihr an Heimatgefühl mangelt. Europa ist nie zu einer Heimat geworden, es fehlt das passende Narrativ. Wer würde schon auf die Frage "Wo bist du daheim?" die Antwort "Europa" geben?

"Heimat muss erzählt werden", sagt der Historiker Christian Jansen, der an der Universität Trier zur Idee der Nation forscht: "Man müsste Europa als Nation neu erfinden. Nationen sind immer etwas Erfundenes." So zeige gerade die Geschichte der USA, dass auch ein multiethnisches und multikulturelles Gebilde zur Heimat werden und einen eigenen Nationalismus entwickeln könne, sagt Jansen.

Geboren wurde die EU als Friedensprojekt, das die Nationen überwinden sollte. Der Unternehmer Jean Monnet, einer ihrer Gründerväter, ging noch davon aus, dass die Nationalstaaten, die für ihn vor allem ökonomische Interessen nationaler Eliten verkörperten, bald an Bedeutung verlieren würden. Die EU sollte als Dach vieler kleiner Regionen fungieren. Heute besteht die EU laut Eurostat-Broschüre aus 276 einzelnen Regionen wie Oberbayern oder der Provence. Doch bislang gelingt es ihr nicht, ein den Kontinent umspannendes Heimatgefühl zu erzeugen.

Voraussetzung dafür wäre, dass Europa eine Erzählung darüber entwickelt, was es ist. Denn Heimat ist letzlich weniger ein Ort als vielmehr ein Narrativ - erzählte Herkunft. Und natürlich dessen Umsetzung. Dass die EU bislang kein Heimatgefühl prägen konnte, liegt nicht zuletzt am Mangel an Möglichkeiten zur Teilhabe und Mitgestaltung.

Für den Historiker Dieter Langewiesche ist das partizipative Element essenziell: "Historisch gesehen war der Nationalstaat so etwas wie ein Teilhabeversprechen für alle - auch wenn das innerhalb eines Staates erst erkämpft werden musste, wenn man etwa an das Frauenwahlrecht denkt. Aber auch die Frauen konnten sich auf das Gleichheitsversprechen des Nationalstaats berufen." Aus dieser Tradition heraus, so Langewiesche, versprechen sich viele Anhänger separatistischer Bewegungen, dass sich Mitwirkung und Teilhabe in kleineren Staatsgebilden leichter verwirklichen lassen. Seit Jahren fordern Parteien wie die FPÖ mehr Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild.

Weil dieser Wunsch nach Mitgestaltung so universal ist, sind es auch nicht ausschließlich Rechtspopulisten, die nach klar umrissenen Staatsgebieten rufen. In Katalonien etwa haben gerade linke und bürgerliche Parteien die Mehrheit im Parlament errungen, die eine unabhängige katalanische Republik fordern. Dann, so hoffen sie, funktioniere alles besser: die Schulen, die Krankenhäuser, die Autobahnen. Abschottung als Allheilmittel.

Heimat reduziert Komplexität, ebenso tut es der Nationalismus, der eine einfache Lösung anbietet: wir gegen die Anderen. Die Idee eines linken Separatismus stößt jedoch schnell an innere Widersprüche. Viele Katalanen werfen dem spanischen Staat vor, sie zu gängeln und mit ihren Steuern ärmere Regionen zu finanzieren. In der EU wollen sie bleiben; doch auch der Unabhängigkeitsbewegung scheint unklar, wie das funktionieren soll. Denn letztlich hätte Katalonien wohl aus Brüssel dieselben Forderungen zu erwarten wie derzeit aus Madrid.

Die Idee EU ist eben auch die einer Solidargemeinschaft. Nationalismus aber lässt Solidarität schwinden. Und so herrscht überall in Europa Ratlosigkeit darüber, was die Menschen hier eigentlich zusammenhält. Eine Idee von Europa als Heimat, so scheint es, haben am ehesten jene, die gar nicht von hier kommen: Flüchtlinge, die sich Schleppern ausliefern, die gefährliche Reise übers Mittelmeer auf sich nehmen oder auf anderen Wegen eine neue Heimat suchen. Sie träumen über all die Kilometer von einem Sehnsuchtsort, der gar kein Ort ist: Europa. Hier scheint sie auf, die Vision, die vielen Europäern heute fehlt.

Nirgends wird Arbeit an der Welt so intensiv geleistet wie in der Literatur

Nationalismusforscher Langewiesche spricht vom "Mitgestaltungsaspekt von Heimat". Eine Art Arbeit an der Welt. Es ist das Gefühl, die eigene Welt gestalten zu können, das viele vom katalanischen Girona bis zum englischen Boston vermissen - beides Hochburgen des Separatismus. Das Narrativ Heimat bedarf schließlich ständiger Fortschreibung. Und zwar nicht nur in der Politik, sondern auch in Büchern, Filmen, Schulen, Zeitungen. Wohl nirgends wird diese Arbeit seit jeher so intensiv geleistet wie in der Literatur. Der Heimatroman ist zurück: Aktuelle Romane wie "Altes Land" von Dörte Hansen oder "Der Fuchs" von Nis-Momme Stockmann spüren demselben Gefühl der Entwurzelung nach, auf das die AfD, die FPÖ oder der Front National eine Antwort gefunden zu haben glauben. Sie tun es aber mit den Möglichkeiten der Literatur, ohne Separatismus, ohne Ressentiments.

"Altes Land" etwa thematisiert die Sehnsucht nach Heimat in der Person eines Journalisten, der im Wortsinne ausgestiegen ist aus der Hetze der Großstadt und sich selbst als "downshifter" betrachtet, der "kapiert hat, dass weniger mehr war". Nis-Momme Stockmanns Roman "Der Fuchs" enthält keine so deutlichen ironischen Spitzen gegen die aufs Land ziehenden Städter; hier wird ein Deich um eine Kleinstadt zu einer Metapher der Beklemmung und des klaustrophobischen Milieus auf dem Land. Heimat ist in beiden Romanen nicht mehr ein Ort, von dem man auszieht, um die Welt zu erkunden; so kehren diese neuen Heimatromane das Prinzip des Bildungsromans um. Hier kommt die Heimat abhanden, ohne dass etwas gewonnen wäre. Die Helden kehren zurück in die Provinz, in der sie eigentlich nichts verloren haben.

Doch die Literatur beschwört nicht bloß die Ratlosigkeit der Heimatlosen, sie schafft neue Narrative von Heimat. Etwa bei Saša Stanišić, der den Versuch unternimmt, Heimat nicht zu bewahren, sondern neu zu erfinden. Sein Roman "Wie der Soldat das Grammofon repariert" über die Flucht seiner Familie aus Bosnien nach Heidelberg kreist um die Kontingenz dessen, was wir Heimat nennen. In seiner Poetikvorlesung in Zürich brachte es Stanišić kürzlich auf den Punkt: "In Bosnien hat es geschossen am 20. August 1992. In Heidelberg hat es geregnet. Es hätte auch Osloer Regen sein können, jede Heimat ist eine zufällige - dort wirst du halt geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Nieren an die Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will."

Stanišić, der 1992 mit seinen Eltern aus dem bosnischen Višegrad nach Deutschland floh, wird oft in die Schublade "Migrantenliteratur" gesteckt. Dabei ist er eigentlich einer der besten Heimatschriftsteller in deutscher Sprache. Heimat nennt er sein "Dort, während ich erzähle" und meint damit "gestaltende Augenblicke im Erzählen, das Erschaffen von etwas, in dem andere ein Zuhause erkennen". Seine Arbeit an der Welt.

Jene, die von anderswo herkommen, könnten die Europäer lehren, was Heimat bedeutet. Dass sie nicht unauflöslich an Geburtsort und Ethnie gebunden ist, sondern wie für Stanišić eine "rätselhafte Verschränkung von Orten - unabhängig davon, wie weit auseinander sie liegen" sein kann. In solchen Erzählungen liegt die Zukunft Europas als Heimat, nicht als geschlossenes Staatsgebiet nur einer Sprach- oder Volksgruppe, sondern als gemeinsames Territorium, in dem die Rechte und Freiheiten aller garantiert sind. Dieses Europa könnten alle Heimat nennen, die diese Freiheiten genießen.

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