SZ-Serie: Was ist Heimat?:"Wir hätten dich schon lang erschlagen"

SZ-Serie: Was ist Heimat?: "Unser Prototyp": Toni Drexler gräbt nach Kulturwurzeln.

"Unser Prototyp": Toni Drexler gräbt nach Kulturwurzeln.

(Foto: Johannes Simon; creativ commons; photocase; Bearbeitung SZ)

Was ein Heimatpfleger können muss? Menschen bis aufs Blut nerven. Und dann doch Ehrenbürger werden. Über einen wichtigen und gefährlichen Job.

Von Rudolf Neumaier

Ein Großbauer hat ihm ins Gesicht gesagt, er lebe gefährlich. "Drexler, nix für ungut! Aber wenn du bei uns aufgewachsen wärst" - der Bauer aus einem Nachbardorf stand neben ihm im Pissoir eines Wirtshauses und lehnte sich raunend zu ihm herüber - "wir hätten dich schon lang erschlagen." Toni Drexler war damals ein paar Jahre jünger, an die 50 vielleicht. Und zwei Köpfe kleiner als der Landwirt. Er vernahm's, nickte dem Hünen freundlich zu und verrichtete die Notdurft. Das Leben als Kreisheimatpfleger ist immer wieder ein Drama.

Aber Drexler hat es ganz gut überlebt bisher. Im Sommer wurde er 70 Jahre alt. Und es ist ja nicht so, dass er ständig bei allen anecken würde. Viele Leute schätzen es auch, wenn er ihnen seine Meinung sagt. Im Oktober haben sie ihn in der Gemeinde Althegnenberg, zu der sein Heimatdorf und Wohnort Hörbach gehört, zum Ehrenbürger ernannt. Obwohl - oder gerade weil - er ihnen schon wieder auf die Nerven gegangen ist. Sie wollten das alte Hörbacher Schulhaus verkaufen, einen Jugendstil-Bau, dessen architektonischen Rang nur noch Kenner sehen, seit die schönen Holzdoppelfenster gegen Isolierglasscheiben ausgetauscht wurden. Mit dem Erlös sollte ein Feuerwehrhaus gebaut werden. Drexler berief eine Bürgerversammlung beim Sandmeir ein, im Dorfwirtshaus.

Was ist Heimat?

Jeder Mensch hat eine Heimat. Oder nicht? Oder auch zwei? Eine Artikelreihe untersucht die Ver- und Entwurzelung in bewegten Zeiten. Alle Texte lesen.

Die Zeitschrift Bayerische Archäologie nannte ihn "Heimat-Revoluzzer". Von einem Revoluzzer würde man erwarten, dass er laut und bissig wird, wenn er die Schulhaus-Geschichte erzählt. Dass er in heiligem Kreisheimatpfleger-Zorn auf den Tisch haut - die 150 Jahre alte Tischplatte an seinem Eckbank-Ensemble wäre ideal zum Draufhauen, Kirschholz, drei Zentimeter dick. Doch Toni Drexler verändert nicht mal die Tonlage. Rappelvoll war es beim Sandmeir. Er habe nicht geschrien, sondern geredet - ins Gewissen. Das Herz von Hörbach verkaufe man nicht. "Paff", sagt er, "da gab es einen Stimmungswechsel." Das Schulhaus bleibt bei der Gemeinde.

Heimatpfleger. Ein schwieriger Begriff. Denn wo fängt Heimat an und wo hört sie auf? Und was heißt dann pflegen? Toni Drexler macht den Job jetzt seit genau 34 Jahren. Seine Definition: "Ich will ein Bewusstsein schaffen für die eigene Region und ihre Geschichte." Er entdeckt Kultur, er gräbt sie buchstäblich aus, und er verwahrt und produziert sie. Mal schaufelt er auf den Äckern des Haspelmoores, mal schürft er in Archiven. Bei einer seiner Feldbegehungen hat er Reste von Artefakten der Mittleren Steinzeit entdeckt, was die Archäologie als echte Sensation feierte: Drexler fand die ältesten Spuren von Menschen zwischen dem Alpenrand und dem Donautal. Und aus Archiven schürfte er Geschichten von wildernden Priestern, Räuberbanden und Opfern religiöser Verfolgung. Gleich neben der Hörbacher Kirche steht ein Brunnen, den Drexler zur Erinnerung an diese Opfer gestiftet hat: Im Jahr 1527 wurden im Umkreis neun Anhänger der Täufer-Bewegung hingerichtet. "Wenn sie uns heutzutage an Toleranz gegenüber Andersgläubigen, Andersdenkenden und Fremden gemahnen, dann war ihr Tod nicht vergebens", hat Drexler auf die Bronzetafel am Brunnen geschrieben. Was für ein Heimatpfleger-Manifest!

Keine Frage, ohne ihn wäre der Landkreis Fürstenfeldbruck kulturell ärmer. Zum Beispiel gilt er als Entdecker der Kabarettgruppe Biermösl Blosn, die er zu ihrem Namen inspirierte. Die Gebrüder Well, wenn sie mit Gerhard Polt übers Land ziehen, erwähnen den "Drexler Toni" noch heute in jedem Programm, egal ob sie in Rom auftreten oder in Mühldorf. Für Martin Wölzmüller, den Geschäftsführer des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege, ist er "unser Prototyp des idealen Heimatpflegers". Seine Bandbreite sei einzigartig, seine Lust auf Kulturvermittlung ebenfalls. "Heimat", sagt Wölzmüller, "ist kein weiches Sofa, auf das man sich zurückzieht, während draußen die Stürme pfeifen. Dann pfeift es auch drinnen." Wohl dem, der dann einen Drexler hat.

Als Bub litt er unter Knochentuberkulose. Eine relativ weit verbreitete Krankheit in den Fünfzigern, manche Kinder starben daran. Toni Drexler kam in eine Heilanstalt nach Aschau im Chiemgau. Mehr als zwei Jahre war er weg. Nach der Volksschule im Jugendstil-Schulhaus von Hörbach schickten ihn die Eltern in ein Münchner Realschul-Internat für körperbehinderte Kinder. Kann gut sein, sagt er, dass dieses Fernsein sein Heimatgefühl geprägt hat. Dass das Heimweh eine Passion entfacht hat, die sich später in gesteigertes Interesse für die historischen Wurzeln von Hörbach, vom Haspelmoor und von ganz Bayern verwandelte.

Kreisheimatpfleger

Dieses Ehrenamt gibt es in seiner Ausformung bisher nur in Bayern, in Thüringen ist es am Entstehen. Weil der Begriff Heimat nicht gesetzlich definiert ist, lässt sich die Aufgabe am besten so umschreiben, wie es in der bayerischen Verfassung steht. Staat und Kommunen hätten "die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft zu schützen und zu pflegen und herabgewürdigte Denkmäler der Kunst und der Geschichte möglichst ihrer früheren Bestimmung wieder zuzuführen".

Sooft er zu Hause war und zum Ministrieren in die Kirche ging, kam er an einem antiken Steinrelief vorbei, das im Portal der Kirche eingemauert ist. Das Fragment eines römischen Grabsteins. Den Kopf, der aus dem Stein ragt, nennt er noch heute "Römer-Xaverl". Dieser Xaverl flüsterte dem Kind zu: erforsche mich. Drexler fand später heraus, dass unter der Kirche jede Menge römische Relikte liegen müssen. Er arbeitete nach der Schule am Fürstenfeldbrucker Landratsamt und an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, Abteilung Personalwesen, mittlerer Dienst, Sachbearbeitung Kindergeldberechnung.

Was er wissen musste, um Xaverl und der Geschichte und Volkskunde seiner Region auf den Grund zu gehen, eignete er sich autodidaktisch an. Schon deshalb war und ist Drexler ein ungewöhnlicher Heimatpfleger. Oft wird dieses Ehrenamt Architekten oder Geschichtslehrern übertragen, Hauptsache sie sind traditionskompatibel. Wobei Tradition in der bayerischen Kulturpolitik meistens mit der CSU verbunden worden ist, zumal in Oberbayern. Hier fungiert im Bezirkstag als Kulturreferent ein Pensionist, dem in seiner Beamtenlaufbahn im Landwirtschaftsministerium Kühe, Schafe und Misthaufen beruflich sicher näher waren als die Musik, die Dichtung oder die Baukunst. Ein CSU-Politiker.

Als er heimkam, sah er, was der Presslufthammer angerichtet hatte

An Drexler kamen sie nicht mehr vorbei, als sie in Fürstenfeldbruck einen Kreisheimatpfleger suchten. Er war zwar der ultralinken Kunstszene Münchens nahe gewesen und er hatte in Hörbach mit seinem Montagsbrettl ein Forum für politisches Kabarett etabliert. Nach dieser Art von Kultur lechzte die Provinz. Die ganzen linken Flegel kamen ins Dorf. Ein CSU-Kreisrat wehrte sich noch gegen den Impresario. Ebenso vehement wie vergeblich: Der Drexler Toni kannte sich schon zu gut aus in der Heimat, als dass sie ihm einen parteinahen Schnupftabakvertreter als Heimatpfleger hätten vorziehen können.

Er brannte für Heimatpflege. Als er mitbekam, dass die Hörbacher Andreas-Kirche saniert werde und Bauarbeiter bestellt seien, um das Fundament auszuheben, nahm er zwei Wochen Urlaub. Es könnten weitere Römersteine zum Vorschein kommen - das ließ sich an fünf Fingern abzählen. Er wollte dabei sein. Drexler saß also in seinem ausgebauten Heuboden und schaute hinüber zur Kirche, es sind nur 80 Meter. Aber es regnete und regnete, zwei Wochen lang. Die Sanierung wurde aufgeschoben. Als er wieder in der Uni Kindergeldanträge bearbeiten musste, kamen die Sonne und die Bauarbeiter. Und als Drexler am Abend heimkam, sah er, was ihr Presslufthammer angerichtet hatte: Die römischen Steine im Untergrund waren zerstört. "Ich hätte heulen können", sagt er.

Kulturelles Erbe oder alter Krempel? Wo es um Fortschritt geht, sind Landschaft und Bauensembles meist unbedeutend. Der Fortschritt ist in einem Landesentwicklungsprogramm organisiert, das ausgerechnet eine staatliche Behörde verfasst hat, die sich Heimatministerium nennt. Allein diese Bezeichnung halten viele Heimatpfleger für einen Witz. Drexler auch.

Egal, wie viele Flüchtlinge gekommen sind oder noch kommen, niemals verändern sie das Land so gravierend wie der technische Fortschritt und der von der Landesentwicklungsbehörde protegierte allgemeine Bauwahn. Vor fünfzig Jahren zählte Drexlers 400-Einwohner-Dorf 25 Landwirte in 29 Anwesen. Heute sind es noch drei Bauern, und viele Bauernhöfe sind abgerissen. Drexler blickt zum Beispiel, wenn er von der Haustür aus zur Kirche schaut, auf einen Neubauklotz in Billigarchitektur, dem ein alter Hof weichen musste.

Seine Aufgabe als Heimatpfleger ist es nun, den Leuten diese Entwicklung vor die Nase zu halten. Seht ihr eigentlich, was ihr da macht? Mit dem Fotografen Thomas Fiedler stellte er Bilder von Flurdenkmälern als Ecce homo der Landschaftsverschandelung aus. "Die christlichen Symbole, meist Kreuze, wurden flankiert von stattlichen Bäumen, die ihnen in der Landschaft erst das nötige Gewicht gaben, um von weitem schon erkannt zu werden", schreibt er im Begleittext. Heute fehle der Respekt gegenüber diesen Kulturzeugnissen. "Aus kommerziellen Gründen werden Begleitbäume abgeholzt, weil sie im Wege stehen und durch mickriges 'Straßenbegleitgrün' ersetzt." Die Kreuze selbst würden wegen "Profitgier, Straßenausbau und pedantischem Ordentlichkeitswahn" trivialisiert und büßten ihre Würde ein. "Ein dramatischer Kulturverlust." Über manche Geschmacklosigkeiten kann man nur staunen. Seinen Kommentar dazu hat Toni Drexler zum Titel der Ausstellung gemacht: "Zefixlujanoamoi." Das heißt so viel wie "In Dreiteufelsnamen".

Für einen Heimatmenschen hat Toni Drexler eine durch und durch weltbürgerliche Weihnachtskrippe in der Wohnung. Sie kommt aus Südfrankreich. Ein Schriftsteller steht drin, ein Bürgermeister, ein Räuber, sogar ein Angler. "Ich weiß, dass es Kitsch ist. Aber was soll's, so was muss man leben." Der praktizierte Kitsch hat seinen Zweck: Kontemplation. Drexler nennt das natürlich anders: Das Krippenaufstellen sei immer wieder "a chillige Sach'". Wenn einer wie der Heimatpfleger Drexler in der bairischen Mundart keinen besseren Ausdruck parat hat als "chillig", ist Heimat in guten Händen.

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