Ein Großbauer hat ihm ins Gesicht gesagt, er lebe gefährlich. "Drexler, nix für ungut! Aber wenn du bei uns aufgewachsen wärst" - der Bauer aus einem Nachbardorf stand neben ihm im Pissoir eines Wirtshauses und lehnte sich raunend zu ihm herüber - "wir hätten dich schon lang erschlagen." Toni Drexler war damals ein paar Jahre jünger, an die 50 vielleicht. Und zwei Köpfe kleiner als der Landwirt. Er vernahm's, nickte dem Hünen freundlich zu und verrichtete die Notdurft. Das Leben als Kreisheimatpfleger ist immer wieder ein Drama.
Aber Drexler hat es ganz gut überlebt bisher. Im Sommer wurde er 70 Jahre alt. Und es ist ja nicht so, dass er ständig bei allen anecken würde. Viele Leute schätzen es auch, wenn er ihnen seine Meinung sagt. Im Oktober haben sie ihn in der Gemeinde Althegnenberg, zu der sein Heimatdorf und Wohnort Hörbach gehört, zum Ehrenbürger ernannt. Obwohl - oder gerade weil - er ihnen schon wieder auf die Nerven gegangen ist. Sie wollten das alte Hörbacher Schulhaus verkaufen, einen Jugendstil-Bau, dessen architektonischen Rang nur noch Kenner sehen, seit die schönen Holzdoppelfenster gegen Isolierglasscheiben ausgetauscht wurden. Mit dem Erlös sollte ein Feuerwehrhaus gebaut werden. Drexler berief eine Bürgerversammlung beim Sandmeir ein, im Dorfwirtshaus.
Jeder Mensch hat eine Heimat. Oder nicht? Oder auch zwei? Eine Artikelreihe untersucht die Ver- und Entwurzelung in bewegten Zeiten. Alle Texte lesen.
Die Zeitschrift Bayerische Archäologie nannte ihn "Heimat-Revoluzzer". Von einem Revoluzzer würde man erwarten, dass er laut und bissig wird, wenn er die Schulhaus-Geschichte erzählt. Dass er in heiligem Kreisheimatpfleger-Zorn auf den Tisch haut - die 150 Jahre alte Tischplatte an seinem Eckbank-Ensemble wäre ideal zum Draufhauen, Kirschholz, drei Zentimeter dick. Doch Toni Drexler verändert nicht mal die Tonlage. Rappelvoll war es beim Sandmeir. Er habe nicht geschrien, sondern geredet - ins Gewissen. Das Herz von Hörbach verkaufe man nicht. "Paff", sagt er, "da gab es einen Stimmungswechsel." Das Schulhaus bleibt bei der Gemeinde.
Heimatpfleger. Ein schwieriger Begriff. Denn wo fängt Heimat an und wo hört sie auf? Und was heißt dann pflegen? Toni Drexler macht den Job jetzt seit genau 34 Jahren. Seine Definition: "Ich will ein Bewusstsein schaffen für die eigene Region und ihre Geschichte." Er entdeckt Kultur, er gräbt sie buchstäblich aus, und er verwahrt und produziert sie. Mal schaufelt er auf den Äckern des Haspelmoores, mal schürft er in Archiven. Bei einer seiner Feldbegehungen hat er Reste von Artefakten der Mittleren Steinzeit entdeckt, was die Archäologie als echte Sensation feierte: Drexler fand die ältesten Spuren von Menschen zwischen dem Alpenrand und dem Donautal. Und aus Archiven schürfte er Geschichten von wildernden Priestern, Räuberbanden und Opfern religiöser Verfolgung. Gleich neben der Hörbacher Kirche steht ein Brunnen, den Drexler zur Erinnerung an diese Opfer gestiftet hat: Im Jahr 1527 wurden im Umkreis neun Anhänger der Täufer-Bewegung hingerichtet. "Wenn sie uns heutzutage an Toleranz gegenüber Andersgläubigen, Andersdenkenden und Fremden gemahnen, dann war ihr Tod nicht vergebens", hat Drexler auf die Bronzetafel am Brunnen geschrieben. Was für ein Heimatpfleger-Manifest!
Keine Frage, ohne ihn wäre der Landkreis Fürstenfeldbruck kulturell ärmer. Zum Beispiel gilt er als Entdecker der Kabarettgruppe Biermösl Blosn, die er zu ihrem Namen inspirierte. Die Gebrüder Well, wenn sie mit Gerhard Polt übers Land ziehen, erwähnen den "Drexler Toni" noch heute in jedem Programm, egal ob sie in Rom auftreten oder in Mühldorf. Für Martin Wölzmüller, den Geschäftsführer des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege, ist er "unser Prototyp des idealen Heimatpflegers". Seine Bandbreite sei einzigartig, seine Lust auf Kulturvermittlung ebenfalls. "Heimat", sagt Wölzmüller, "ist kein weiches Sofa, auf das man sich zurückzieht, während draußen die Stürme pfeifen. Dann pfeift es auch drinnen." Wohl dem, der dann einen Drexler hat.
Als Bub litt er unter Knochentuberkulose. Eine relativ weit verbreitete Krankheit in den Fünfzigern, manche Kinder starben daran. Toni Drexler kam in eine Heilanstalt nach Aschau im Chiemgau. Mehr als zwei Jahre war er weg. Nach der Volksschule im Jugendstil-Schulhaus von Hörbach schickten ihn die Eltern in ein Münchner Realschul-Internat für körperbehinderte Kinder. Kann gut sein, sagt er, dass dieses Fernsein sein Heimatgefühl geprägt hat. Dass das Heimweh eine Passion entfacht hat, die sich später in gesteigertes Interesse für die historischen Wurzeln von Hörbach, vom Haspelmoor und von ganz Bayern verwandelte.
Dieses Ehrenamt gibt es in seiner Ausformung bisher nur in Bayern, in Thüringen ist es am Entstehen. Weil der Begriff Heimat nicht gesetzlich definiert ist, lässt sich die Aufgabe am besten so umschreiben, wie es in der bayerischen Verfassung steht. Staat und Kommunen hätten "die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft zu schützen und zu pflegen und herabgewürdigte Denkmäler der Kunst und der Geschichte möglichst ihrer früheren Bestimmung wieder zuzuführen".
Sooft er zu Hause war und zum Ministrieren in die Kirche ging, kam er an einem antiken Steinrelief vorbei, das im Portal der Kirche eingemauert ist. Das Fragment eines römischen Grabsteins. Den Kopf, der aus dem Stein ragt, nennt er noch heute "Römer-Xaverl". Dieser Xaverl flüsterte dem Kind zu: erforsche mich. Drexler fand später heraus, dass unter der Kirche jede Menge römische Relikte liegen müssen. Er arbeitete nach der Schule am Fürstenfeldbrucker Landratsamt und an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, Abteilung Personalwesen, mittlerer Dienst, Sachbearbeitung Kindergeldberechnung.
Was er wissen musste, um Xaverl und der Geschichte und Volkskunde seiner Region auf den Grund zu gehen, eignete er sich autodidaktisch an. Schon deshalb war und ist Drexler ein ungewöhnlicher Heimatpfleger. Oft wird dieses Ehrenamt Architekten oder Geschichtslehrern übertragen, Hauptsache sie sind traditionskompatibel. Wobei Tradition in der bayerischen Kulturpolitik meistens mit der CSU verbunden worden ist, zumal in Oberbayern. Hier fungiert im Bezirkstag als Kulturreferent ein Pensionist, dem in seiner Beamtenlaufbahn im Landwirtschaftsministerium Kühe, Schafe und Misthaufen beruflich sicher näher waren als die Musik, die Dichtung oder die Baukunst. Ein CSU-Politiker.