Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Völkerwanderung in Deutschland (1):Die Leere und das verlassene Ich

Verhältnisse wie im Dreißigjährigen Krieg: Über zwei Millionen Menschen sind seit der Wende aus den neuen Bundesländern in den Westen gezogen. Der verlassenste aller Orte ist Wolgast, kurz vor Polen. Hier schließen sie schon die Schulen. Eine Ortsbesichtigung.

SONJA ZEKRI

Die Republik ist in Bewegung. Über zwei Millionen Menschen sind seit der Wende aus den neuen Bundesländern in den Westen gezogen. Stadtmüde flüchten auf der Suche nach Luft und Raum ins Umland, wo pro Tag 130 Hektar Fläche zubetoniert werden. Junge Wissenschaftler kehren Deutschland in Scharen den Rücken. Vor unseren Augen finden in Deutschland demografische Umbrüche statt, die Bevölkerungswissenschaftler mit jenen des Dreißigjährigen Krieges vergleichen. Gewiss, wir haben viele Völkerwanderungen erlebt: Die Ankunft Millionen Vertriebener nach dem Zweiten Weltkrieg, die Karawanen der Facharbeiter von Nord nach Süd, Zuwanderung und Landflucht. Doch die Routen und Ziele haben sich geändert, das Tempo beschleunigt. In einer Serie wollen wir die wichtigsten Bewegungen untersuchen. Im ersten Teil geht es um den dramatischsten unter allen Menschenströmen: Die Abwanderung aus den neuen Ländern.

An der Landstraße ziehen goldene Hügel vorbei, und wenn Rehe darüber hüpfen, hinterlassen sie Wolken. Auf den wüstentrockenen Feldern stehen die Störche wie festgeschraubt. Möwen ziehen ihre Kreise. Kein Mensch weit und breit. Mecklenburg-Vorpommern: Ein weites Land, ein hinreißendes Land. Ein Land, in dem man nicht leben kann. Auf die sanften Ebenen verteilen sich so viele Menschen, wie in Hamburg leben: Ganze 1,7 Millionen sind noch übrig geblieben.

Der Osten Deutschlands verliert Menschen. Knapp Hunderttausend ziehen Jahr für Jahr in den Westen. Einstmals junge Regionen vergreisen. Wo Wohnraum ein Privileg war, stehen über eine Million Wohnungen leer, Kommunalpolitiker diskutieren den Abriss von Häuserblöcken, Vierteln, ganzen Städten. Leipzig erwägt ein Hirschgehege am Hauptbahnhof - ein böser Scherz über die ungenutzte Innenstadt. Die Flucht ist hart für Sachsen-Anhalt und bitter für Sachsen, aber am schlimmsten trifft es die Idylle in Mecklenburg-Vorpommern.

Wolgast, kurz vor Polen, östlichstes Ostvorpommern: Peripherie, nicht nur geografisch. Wolgast hat eine schmuck renovierte Innenstadt, und am Ufer, am Fischmarkt, gegenüber von Usedom, kostet der Kaffee so viel wie in Köln. Aber Jürgen Kanehl, der Bürgermeister, ein bulliger Typ mit grauem Topfschnitt und kleinen wachen Augen, möchte sich schlägt als Treffpunkt nicht sein spätgotisches Rathaus vor, sondern einen Gewerbeklotz am Stadtrand: Das Existenzgründerzentrum ist der steingewordene, EU-gesponsorte und vergebliche Versuch, die Abwanderung aufzuhalten. 1992 kam Kanehl aus dem Westen nach Wolgast, seitdem ist die Bevölkerung um fast ein Viertel geschrumpft, von 17000 auf 13000, und dass es in Anklam und Wittenberge ähnlich aussieht, ist kein Trost. Inzwischen habe der Sog nachgelassen, sagt Kanehl: "Es sind ja schon so viele fort." Auch hier stehen Platten leer.

Dabei war Wolgast mal eine Einwanderungsregion: Als noch die Peenewerft florierte und das Atomkraftwerk Lubmin, als die DDR sich den NVA-Flughafen und den Marinestützpunkt leistete und LPGs die Äcker bestellten, explodierte die Stadt. Die DDR-Führung lockte mit Wohnraum, verschob Hochschulabsolventen nach Bedarf und verdoppelte die Einwohnerzahl. Doch nach der Wende entließ die Werft Tausende, das Kraftwerk wurde stillgelegt, den Flughafen gibt es nicht mehr, und die Bauern haben Angst vor der EU-Osterweiterung - wie alle anderen. Jetzt herrscht in Wolgast die Angst vor der Leere.

Wie soll man die Leute auch halten - bei Löhnen unter Osttarif, bei Firmen, die dem Bewerber mitteilen, in den ersten Monaten könne man natürlich kein Gehalt zahlen, bei einer Arbeitslosigkeit von 22 Prozent im Winter? Der zweitgrößte Arbeitgeber ist das Call-Center im Existenzgründerbunker. "Acht Jahre dürfen die Firmen hier bleiben", sagt Kanehl, "dann heißt es: Adios!" Doch er weiß, dass es ein Wahnsinn wäre, ein Unternehmen zu vertreiben, an dessen Stelle nichts anderes träte als noch mehr Arbeitslosigkeit. Die Menschen in Vorpommern lösen sich schwer, sie pendeln nach Hamburg, machen Kompromisse. In Irland suchen sich "Call-Center-Agents" nach zwei Jahren etwas Besseres. In Wolgast bleiben die Leute, bis man sie nicht mehr braucht. Unter denen, die am Telefon potenzielle Lottospieler animieren, ist ein ehemaliger NVA-Offizier. Kanehl kennt solche Fälle. "Wissen Sie, was das heißt, wenn ein Pilot auf einmal als Hausmeister arbeiten muss?"

Keiner da. Keiner kommt.

Wie aber soll eine Kommune ohne Menschen überleben? Die Freiwillige Feuerwehr will eine "Ich-AG" gründen und Rasen mähen. Damit die Kameraden nicht fortziehen müssen und Wolgast keine Berufsfeuerwehr einrichten muss, was der Stadt, die kaum noch Steuern einnimmt, das Genick bräche. Überhaupt ist Rasenmähen ein begehrter Job. Denn die gut Ausgebildeten arbeiten nach Westtarif in Stuttgart, und so fehlen nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Arbeitskräfte.

Meinhard Kupser, ein kleiner, blasser Mann mit Jungsgesicht, ist Inhaber der MK Industrieservice und viel unterwegs, er ist stolz auf seine vier Pässe und führt durch eine Halle voller Keilriemen und Kugellager, als wäre es das Schlaraffenland. Dass er aus Wolgast stammt, hält er für einen Standortvorteil: "Die Mitbewerber unterschätzen mich." Dass er aber in seiner Heimat niemanden für den Außenhandel fand, weil keiner genug Englisch sprach, hat ihn enttäuscht. So dreht sich die Stadt im Kreis: Sie sucht Investoren, um die guten Leute zu halten, hat aber nicht genügend gute Leute, um die Firmen zu locken. "Wenn BMW morgen ein Werk für 2000 Leute eröffnen würde", sagt Kanehl, "könnten wir die Jobs gar nicht besetzen. Wolgast hat keine Kfz-Fachkräfte." Kupser hat dann eine vierköpfige Familie aus Eisleben in Sachsen-Anhalt angeworben: So löst eine Wanderung die nächste aus.

Dass die Bevölkerungswissenschaftler die Zukunft des Ostens in tiefleuchtendem Schwarz malen und bis 2050 eine Halbierung der Bevölkerung zwischen 20 und 60 Jahren prognostizieren, hat aber auch mit dem Frauenexodus zu tun. In Rostock herrscht längst ein dramatischer Männerüberschuss und überall hört man Wehklagen, weil auch die Zurückgebliebenen nicht mehr so viele Kinder bekommen wollen. Gewiss, man hört von neuen Abhängigkeiten, von Frauen ohne Arbeit, die Kinder zeugen, um mehr Sozialhilfe zu bekommen. Vor allem den besser Gebildeten aber ist die Lust auf den Nachwuchs vergangen. 340 Kinder wurden in Wolgast vor der Wende jährlich geboren, jetzt sind es 100. Wolgast altert im Tempo eines Progeria-Patienten.

Es liegt auch an solchen Daten, dass in dem lachsfarbenen Jugendraum mit Che Guevara-Bild eine Art Wagenburg-Stimmung herrscht. Hier treffen sich Johanna Wiedemann, eine PDS-nahe Siebzehnjährige, und Falko Schulz, der Leiter der PDS-Jugendgruppe Wolgast, sie verteilen Plakate für die Wehrmachtsausstellung, betreuen Asylbewerber und sehen sich in Wolgast, wo die Rechten erst vor kurzem wieder marschierten, gleich mehrfach in der Minderheit. Und doch wollen sie bleiben. Johanna möchte in Greifswald Mathematik studieren: "Damit könnte ich zur Not auch Fahrpläne schreiben". Und Falk, der eigentlich aus Pasewalk kommt und jeden bedauert, "der hierher zieht", fände den Weg in den Westen extrem unsolidarisch. Das Argument überzeugt nicht mal die Genossen: Auch die PDS-Jugend verliert Leute dutzendweise.

Bildung, sagt der Bielefelder Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg, ist das einzige, was Regionen wie diesen aus der Krise hilft: Die besten Schulen, die besten Unis, die besten Absolventen, um neue Industriezweige anzulocken. Das sieht Johanna genauso. Aber in Wolgast ist die Zahl der Schüler von 3000 auf 1300 gesunken, fünf von acht Schulen wurden geschlossen. In Johannas Gymnasium auf Usedom wurden die Klassen zusammengelegt, Kurse und Stunden gestrichen. "Als Jugendlicher fühlt man sich abgemeldet," sagt sie. Ende August veranstaltet Mecklenburg-Vorpommern auf Rügen ein Workshoptheatermusikspektakel für 15000 Jugendliche, "Prora03". Es ist der Versuch, diesen Eindruck wenigstens für drei Tage zu entkräften.

Denn das Klima hat sich verändert. Die Alten fordern Ruhe, beschweren sich über Skater und Kinderlärm. Die Usedom-Peene-Zeitung meldet, dass greise Mieter einer Siedlung drei Jungs das Fußballspiel verboten haben: Eine Stadt wird zum Seniorenheim. Aber sollte man nicht aus der Not eine Tugend machen und aus Vorpommern Florida? Die Rentner als touristische Zielgruppe umwerben, mit Bädern und Kuren, Seniorengedeck und abgesenkten Bürgersteigen von Ahlbeck bis Ludwigslust? "Und wir sollen den Alten im Baströckchen Getränke servieren", spottet Kanehl. So stellt er sich die Zukunft für Wolgast nicht vor. Aber hat die Stadt eine Zukunft?

Mit einer Rückholagentur will Mecklenburg-Vorpommern den Fortgezogenen die Heimkehr erleichtern. Aber Reisende lassen sich nicht aufhalten, nicht in einer freien Gesellschaft. Deutschland wird "vielfältiger" werden, sagt Herwig Birg, andere Länder lebten auch mit ihrem Mezzogiorno. Das ist die Perspektive für den Osten: Prosperierende Forschungs- und Industrieinseln in einem Ozean von Demenz und Armut, Satelliten in kosmischer Leere. Die Chancengleichheit von Stadt und Land, Ost und West war eine Illusion. Deutschland zerfällt. Und wir können nicht sagen, wir hätten es nicht bemerkt.

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