Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Stimmen aus Syrien:"Wir sind es leid, Kinder aus unseren Fischernetzen zu ziehen"

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Der Schriftsteller Adel Mahmoud hat das Meer geliebt, seinen Klang, seine Stille. Nun erträgt er die Strände in Syrien nicht mehr.

Gastbeitrag von Adel Mahmoud

Zwei Monate lang haben Adel Mahmoud und Anas al-Shamy, Schriftsteller der eine, Fotograf der andere, uns Texte und Gedanken aus Syrien geschickt. Sie waren so offen wie möglich, so vorsichtig wie nötig, und haben Einblick in ihren schwer vorstellbaren Alltag in einem Land im Krieg gewährt. Nichts hat sich in dieser Zeit zum Besseren gewendet, manches, wie die Offensive auf Idlib, lässt Furchtbares ahnen. Der 1946 in Latakia geborene Journalist und Schriftsteller Mahmoud, der seit 50 Jahren in Damaskus lebt, aber nach Aleppo fliehen musste, beendet diese kleine Reihe - und verbindet das Schicksal Syriens ein letztes Mal mit jenem Deutschlands.

"Ein Mensch, auf den keiner wartet, wird nie zu spät kommen."

Ich habe mein ganzes Leben am Meer verbracht, habe lange in Küstenstädten gelebt. Meine Beziehung zum Meer hat stets vieler Worte bedurft, eines Meers von Worten. Am stärksten haben mich immer jene verlassenen geheimnisvollen Strände beeindruckt, deren Natur doppeldeutig ist: Ein Meeresstrand, umgeben von Wäldern, ein Strand als Mündung eines Flusses im Schoße von Bergen oder inmitten eines Wüstenstreifens gelegen wie beim Roten Meer.

Egal, ob ich in Tunesien, auf Zypern und in Griechenland oder in meiner syrischen Heimatstadt Latakia war, immer habe ich die ästhetische Vielfalt des Meereswassers genossen, das Geräusch seiner Wellen, das Schweigen seiner Felsen, und ich habe an die Lieder und Gedichte über das Meer gedacht, vielleicht verfasst von Poeten und Dichtern just in dem Augenblick, in dem sie dieser Feier der Schönheit der Natur beiwohnten. Ich habe es ihnen gleichgetan, habe über die Glückseligkeit, die Freude und das Entzücken der Farben geschrieben beim Betrachten des Meeres zu unterschiedlichen Zeiten.

Bis die Katastrophe hereinbrach, der syrische Exodus in Booten, die nur dazu taugen, in aufgewühlter See allmählich unterzugehen. Es begann die Flucht vor dem Krieg in Kälte und Wüste, der Versuch, in die Länder nördlich des Mittelmeeres zu entkommen, im Vertrauen auf dilettantische Fluchthelfer und beschädigte Schlauchboote. Es begann die Auswanderung ganzer Familien ohne die Gewissheit, jemals anzukommen - mitsamt ihren Kindern und manchmal auch der Enkel.

Menschen, von denen die meisten noch nie das Meer gesehen hatten, Bewohner der Städte im Landesinneren oder der ländlichen Regionen, die nie weiter gereist waren als bis zu den Basaren der nächsten Ortschaft, um dort ihre Körbe mit Obst zu verkaufen, machten sich auf den Weg.

Als die Katastrophe hereinbrach, flimmerten die Schreckensbilder über die Bildschirme der Welt: Boote, die der Wind peitschte, Hilfeschreie, die im Sturm untergingen, Kinder, die im Schoß ihrer Mütter ertranken; von Salzwasser aufgedunsene Leichen an sonderbar menschenleeren Stränden (wie jene, die ich gemeint hatte zu lieben). Türkische Fischer am südlichen Mittelmeer, unmittelbare Nachbarn Syriens, beklagten sich: "Wir sind es leid, Kinder aus unseren Fischernetzen zu ziehen."

Mit Narrenbrillen suchen Angehörige nach den Ertrunkenen

Es kam die Katastrophe mit ihren Zahlen und den Bildern, die das Leben in Sicherheit zu einem zweifelhaften Luxus machten. Eine Nachricht besagte, dass alle vier Stunden ein Flüchtling ertrinkt. 2015 ertranken 3771 Menschen. Im nächsten Jahr lag ihre Zahl schon jenseits der fünftausend.

Doch welche Bedeutung haben diese Zahlen? Die Tragödie bemisst sich nicht nach Zahlen. Es genügt, sich ein Bild der toten Kinder anzuschauen, die das Meer auf den Strand gespuckt hat.

Seit dem ersten Kriegsjahr ist die Küstenstadt Latakia von Hunderttausenden Flüchtlingen überschwemmt worden, die auf der Flucht vor dem Krieg vom syrischen Regime in Zeltstädten am Strand untergebracht wurden. Ich ging täglich zum Meer, jeden Sommer, um das Geschehen dort zu verfolgen, Jahr um Jahr. Und ich fand dort eine stetig wachsende Zahl von Frauen und Männern, die im Gesicht trugen, was später als "Narrenbrillen" bezeichnet wurde: Ferngläser aller Art und allen Alters, Kinderbrillen, Schwimmbrillen, Armeebrillen. Und zuweilen Brillen aus zwei langen Röhren oder einfach ein Monokel aus Vergrößerungsgläsern. Ein absonderlicher Anblick.

Als ich nach dem Grund fragte, sagte man mir, es seien Mütter und Väter derjenigen, die versucht hatten, in nicht seetauglichen Booten das Mittelmeer zu überqueren und ertrunken waren. Mit diesen verrückten, traurigen und gefügigen Hilfsmitteln und mit einer schmerzlichen Ergebenheit warteten sie darauf, ein Boot, eine Leiche oder einen Sohn auf den Wellen treibend zu sehen.

Nach sieben Jahren Krieg gibt es andere Wartende. Das Warten aber ist geblieben. Nach sieben Jahren Krieg hat sich das Alter der Wartenden geändert. Gestorben sind die, die des Blaus des Meeres müde waren, der Meeresnächte, der Meeresstrände und der Meeresbrillen.

Zu Beginn dieses Sommers, bei meinem ersten Spaziergang am Meer, sah ich eine schwarz verschleierte Frau, die eine Taucherbrille und einen Schnorchel trug, wie ein Froschmann, bereit zum Tauchgang, um nach ihrem ertrunkenen Kind zu suchen.

Ich ertrage die leeren, einsamen Strände nicht mehr. Ich werde nichts mehr über das Meer schreiben.

Und doch hat in den vergangenen Wochen eine andere Szenerie von den Stränden Syriens Besitz ergriffen. Die Schulen haben ihre Pforten geschlossen, und der Strand war jetzt, während der Gefechtspause im Sommer, von Kindern und Familien bevölkert, es herrschte ein wildes Badeleben an den von Leben überbordenden Stränden.

Aus dem Arabischen von Markus Lemke.

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Quelle:
SZ vom 13.09.2018
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