SZ-Serie: Sommerhaus, früher:"Habe Pippi-Lieder geschrieben. Sitze an Karlsson"

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Auf der Veranda eines Hauses der Insel soll einmal ein Pferd gestanden haben: „Stenhällen“ auf der Schäreninsel Furusund. (Foto: imago stock&people)

Für Astrid Lindgren war ihr Sommerhaus "Stenhällen" auf der Schäreninsel Furusund ein Ort des Schreibens, des Trostes in Krisenzeiten und des Familienlebens.

Von Silke Bigalke

Sie saß im Bett und schrieb, oft schon morgens um fünf. Wahrscheinlich konnte sie dabei aufs Meer schauen, im schwedischen Sommer ist es um diese Zeit hell. Und vielleicht hörte sie vom Bett aus die Möwen schreien und die Wellen gegen die Bojen klatschen. Am Anlegesteg schlagen die Karabinerhaken im Wind laut gegen die Fahnenmasten. Vom Steg sind es keine hundert Meter bis zu dem rot gestrichenen Holzhaus mit dem kleinen Balkon, hinter dem Astrid Lindgrens Schlafzimmer liegt.

Auf ihren Stenoblöcken konnte sie so schnell schreiben, wie sie dachte. Die Geschichten flossen dann fast aus ihr heraus, auch in den Sommerferien auf Furusund. Am liebsten schrieb sie im Bett oder im Freien. Den "Meisterdetektiv Blomquist" schrieb sie im Ruderboot in Furusund, so schnell, dass sie sich fast dafür schäme, erzählte sie 1947 einer Journalistin, ganz am Anfang ihres Ruhms. "Ich habe das komische Gefühl, als wäre das Buch bereits fertig, wenn ich zu schreiben beginne, mir fällt als Aufgabe nur die Reinschrift zu."

Die Insel war früher ein Kurort für wohlhabende Stockholmer

Sie hat sich Furusund nicht selbst ausgesucht. Es war das Domizil der Familie, in die sie 1931 einheiratete. Sture Lindgren war ihr Chef, Büroleiter beim Königlichen Automobilklub in Stockholm, sie seine Sekretärin. Die 23-jährige Astrid Ericsson hatte einsame, traurige Jahre hinter sich. Nach der Heirat konnte sie ihren kleinen Sohn Lasse dauerhaft aus Kopenhagen zu sich holen. Sie hatte ihn dort als 19-Jährige heimlich zur Welt gebracht, weil der Vater ihr Chef und Inhaber der Lokalzeitung ihrer Heimat Vimmerby war, und außerdem noch verheiratet.

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Mit Sture Lindgren führte sie ein gutbürgerliches Familienleben in Stockholm, inklusive Sommerferien auf Furusund. Die Insel war früher ein Kurort für wohlhabende Stockholmer gewesen, in einer guten Stunde war man mit dem Schiff oder dem Auto dort. 1940 kauften Stures Eltern das Haus "Stenhällen" (Steinplatte) als festen Wohnsitz auf Furusund. Später wurde es zum Sommerhaus für Sture, Astrid, ihre Kinder Lasse und Karin.

Manchmal stand Astrid Lindgren ganz früh auf, ging die Treppe hinunter durch das schlafende Haus raus in den Garten. Sie lief den kleinen Hang hinab zwischen den Bäumen hindurch zum Wasser, um zu schwimmen. Danach, erzählt ihre Enkelin Malin Billing, setzte sie sich oben auf den Balkon. Dort gibt es eine kleine Nische, keinen halben Meter breit, mit einem Brett als Bank. Geschützt vor Wind und Wetter sah sie dort der Sonne beim Aufgehen zu.

Bevor sie am Ende des Sommers zurück nach Stockholm fuhr, hat sie sich mit dem Kopf unter diese schmale Bank gelegt und die Saison zusammengefasst. Sie schrieb von unten auf die Bretter: "Den ganzen Sommer Hitzewelle. Wahnsinnig trocken. Ein Sommer der Verzweiflung, Lasse tief deprimiert, krank, arbeitslos. Vater starb am 28. Juli. Kurz zuvor betraten die ersten Menschen den Mond. Habe Pippi-Lieder geschrieben. Sitze an Karlsson." Das war ihr Eintrag für 1969, wie ihn Jens Andersen zusammen mit vielen anderen Details in seine Biografie über Astrid Lindgren übernommen hat. Sie schrieb auch auf die Innenwände einiger Schränke, vielleicht weil der Platz unter dem Bänkchen begrenzt war. Sie war sich wohl sicher, dass Stenhällen in der Familie bleiben würde. Heute nutzen ihre Enkel das Haus. Anders als Astrid Lindgrens Wohnung in Stockholm kann man es nicht besichtigen.

Auf Furusund konnte sich die Autorin zurückziehen. Die Nachbarn auf der Insel hielten dicht, wenn Neugierige nach Astrid Lindgrens Sommerhaus fragten. Bis heute gibt es keine Hinweisschilder. Auf den Tafeln für Touristen, die auf der Insel stehen, geht es eher um einen anderen prominenten Bewohner, August Strindberg. Nach ihm ist auch der Schotterweg benannt, der zu Astrid Lindgrens Sommerhaus führt. Durch den kleinen Ort läuft man wie durch eine luxuriösere Kleingartensiedlung, viele Zäune, Hecken, Blumen, Gartenmöbel und Veranden - angeblich soll auf einer mal ein Pferd gestanden haben. Die privaten Grundstücke mit den schönen Holzvillen liegen direkt am Wasser. Viele sind so zugewachsen, dass man vom Weg aus das Meer nicht mal sieht.

Die "größte Trösterin war für sie die Natur

Astrid Lindgren hat auf der Insel Beeren und Pfifferlinge gesammelt, Tochter Karin hat hier schwimmen gelernt, Sohn Lasse Mathe gepaukt. Sie fuhren Ruderboot oder mit der Jolle Syltkrukan (Marmeladentopf), später mit dem Segelboot Saltkråkan (Salzkrähe) und Lasses Motorboot Mio. Das Leben war leichter auf Furusund, auch dann, wenn es schwer war. 1944 erklärte Sture ihr im Sommerhaus, dass er in eine andere Frau verliebt sei. Astrid Lindgren wollte in ihrem Elend nicht zurück nach Stockholm. In ihr Tagebuch schrieb sie von einer "verzweifelten Seelenqual" und fragte, woher sie die Kraft nehmen sollte, "in die Stadt zu fahren und so zu tun, als lebte ich ein normales Leben".

Die "größte Trösterin" war für sie ohnehin die Natur, das Meer vor dem Schlafzimmer, der Wald nebenan. Als Sture, der bald zu ihr zurückgefunden hatte, 1952 infolge einer Leberzirrhose starb, floh Astrid Lindgren kurz nach der Beerdigung nach Furusund. Und als ihre Tochter Karin 1958 heiratete und aus der gemeinsamen Wohnung in Stockholm auszog, notierte sie, dass nun "ein kleines Schweinchen allein zurückblieb". Also sei sie dorthin gefahren, "wo ein Schwein ewig lang allein sein kann, ohne es zu merken". Nach Furusund.

Allein sein zu können war wichtig für Astrid Lindgren, und die Insel half ihr dabei. Nach Stures Tod fragte ein Journalist, wie sie den Verlust verkraftet habe. "Der Mensch hat nur einen zerbrechlichen, kleinen Schutz gegen das, womit das Leben zuschlagen kann, wenn er nicht gelernt hat, allein zu sein", antwortete die Witwe. Sie hat viele Kinder erfunden, die allein zurechtkommen müssen. Ihnen fehlt mindestens ein Elternteil, sie haben niemanden, der sie versteht, manche flüchten sich in eine Fantasiewelt, wie Krümel, der ans Krankenbett gefesselt ist, oder der Waisenjunge Bosse, der zum Prinzen wird. Selbst die unbesiegbare Pippi Langstrumpf sitzt am Ende allein an ihrem Küchentisch, den Kopf in die Hände gestützt, und starrt in ein Licht. Annika und Thomas sehen sie da sitzen und wünschen sich, dass sie zu ihnen schaut, damit sie ihr zuwinken können. Aber Pippi schaut nicht zu ihnen.

Woher kommt diese Einsamkeit? Astrid Lindgren hat mal gesagt, dass sie nur über das schreiben könne, was sie kennt. Was sie kannte, war eine glückliche Kindheit in Småland. Sie wusste, wie es ist, auf dem Pfarrhof Näs in Vimmerby mit drei Geschwistern aufzuwachsen und bis zum Umfallen zu spielen. Sie wusste nicht, was es heißt, ein Kind in Stockholm oder auf einer Schäreninsel zu sein, und hielt diese Orte lange aus ihren Geschichten heraus. Als ihr Bruder Gunnar 1974 starb, schrieb sie: "Bullerbüs Lasse, der erste Sachensucher, ist tot." Der Pfarrhof Näs war Bullerbü, und sie war kein verlassenes, sondern ein recht glückliches Kind, das später zu einem einsamen Teenager wurde. Und als Teenager ließ sie dann selbst ein Kind allein, Lasse in Kopenhagen.

Niemand weiß, wie sehr der kleine Lasse ihre Kinderfiguren beeinflusst hat. Als die Brüder Löwenherz erscheinen und sie immer wieder gefragt wird, ob Tod und Freitod die richtigen Themen für ein Kinderbuch seien, sagt Astrid Lindgren sinngemäß: Mehr Angst als vor dem Tod hätten Kinder davor, verlassen zu werden. Die Brüder Löwenherz verließen einander nicht, und das sei tröstlich.

Erst spät schreibt sie eine Geschichte über die für sie so heilsamen Schären

Astrid Lindgren selbst hat sich in der Natur eine Trösterin gesucht. Einer Zeitung sagte sie 1983, die Natur sei "eine Liebe, die man behält, solange man lebt". Das dürfte Furusund eingeschlossen haben. Als immer mehr Menschen Geld, Rat, ein nettes Wort oder ein politisches Statement von der berühmten Autorin haben wollten, zog sie sich oft auf die Insel zurück. Im Herbst 1965 schrieb sie an ihre Jugendfreundin Anne-Marie Fries von einem Besuch auf Furusund, "mit ruhigem blauen Wasser, einem blauen Himmel, roten und gelben Bäumen, sternenklaren Abenden und so traurigen und herbstlich schönen Sonnenuntergängen, dass es kaum zu ertragen war". Sie habe in ihrer Einsamkeit getanzt, schrieb sie, "aus lauter Freude, mutterseelenallein dort zu sein".

Eine Geschichte über die Schären schreibt sie erst, als ein Filmproduzent sie um ein Drehbuch für eine TV-Serie bittet. Drehort wird die Insel Norröra, nicht weit von Furusund. In der Geschichte heißt sie Saltkråkan, wie das Boot. Nach 25 Jahren voller Urlaube auf Furusund beschreibt sie, wie heilsam ein Sommer in den Schären sein kann. Ihre Familie - Karin, Lasse und sieben Enkel - weiß das längst. Anfang der Sechzigerjahre kauft Astrid Lindgren für sie zwei weitere Häuser auf der Insel, ganz nah an ihrem.

"Es ist noch dasselbe Gefühl im Haus wie früher"

Enkelin Malin Billing erinnert sich: Morgens und am Vormittag schrieb ihre Großmutter, und die Familie ließ sie dabei in Ruhe. "Es war allgemeines Verständnis, dass sie uns besuchen kommt, wenn sie dafür bereit ist." Dann spielte sie mit den Enkeln, war selten bei den Großen, meistens bei den Kleinen. Wenn Malins Bruder im August seinen Geburtstag feierte, brachte die Großmutter eine japanische Maske mit zur Party, zog sie an und jagte die Kinder durch den Garten - eines ihrer Lieblingsspiele.

Sie hatte ihre Familie gerne um sich. Einmal in der Woche kochte sie abends für alle, meist schwedische Hausmannskost. Auf Furusund tat sie das in einer winzigen Küche. Als die Enkel das Haus nach ihrem Tod renovierten, haben sie die erst mal vergrößert. Sonst haben sie vieles so gelassen, wie es war. Der weiße Schreibtisch mit der Schreibmaschine ihrer Großmutter steht noch oben am Treppenaufgang im Flur, neben dem Fenster. Sie haben versucht, Tapeten auszuwählen, die Astrid Lindgren gefallen hätten. Sie mochte Hellblau und Blumenmuster. "Es ist noch dasselbe Gefühl im Haus wie früher," sagt die Enkelin. Da liegen noch Briefumschläge und Papier, das Astrid Lindgren benutzt hat. An einem Haken hängt immer noch ihr Hut, als hätte sie das Haus nie verlassen.

© SZ vom 21.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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