SZ-Serie: Große Journalisten:Die gelehrten Sachen

Gottfried Ephraim Lessing: der erste Großkritiker der Presse / Serie, Teil V

JAKOB AUGSTEIN

Mit einer Katze hat sich Lessing mal verglichen. Katzen sind unabhängig und unberechenbar - und allein. Das wäre Goethe nie eingefallen. Eine "dreiste Selbstständigkeit" attestierte ein Zeitgenosse Lessing, halb ehrfürchtig, halb schaudernd.

Lessing
(Foto: SZ vom 7.1.03)

Manchen sind Katzen nicht geheuer. Der unabhängige Geist bewegt sich wie ein Fremder in Deutschland. Es waren Juden - Mendelssohn, Heine, Börne -, die Lessing vielleicht am besten verstanden. Goethe sagte nur, die "Schlechtigkeit der Zeit" sei dafür verantwortlich gewesen, dass Lessing "immerfort polemisch wirkte". Das war einer der frühesten Versuche, ihn sich vom Leib zu halten, diesen deutschen Klassiker, der einem kaum deutsch und schon gar nicht klassisch vorkommen will.

Man weiß mittlerweile, wie schwer dieses Wort wiegt: Klassiker. Wie es seinen Träger mühlsteinmäßig in die Tiefe der Gestrigkeit und Langeweile zieht. Man sollte es meiden. Der Dichter, Dramatiker und vor allem der Kritiker Lessing verdient das nicht.

Einer seiner ersten Zeitungsartikel, den Gedichten von Johann Christoph Gottsched gewidmet, endet 1751 mit den Worten: "Diese Gedichte kosten in den Vossischen Buchläden zwei Taler und vier Groschen. Mit zwei Talern bezahlt man das Lächerliche und mit vier Groschen ungefähr das Nützliche."

Das ist erstens immer noch ziemlich lustig, was ja etwas heißen will, weil nicht viele Witze 250 Jahre halten, und zweitens ist es für Lessings Modernität kennzeichnend, weil Gottsched selber die Kritik erst ein paar Jahrzehnte zuvor in Deutschland etabliert hatte, gleichsam wie ihr Papst in Leipzig thronte und nun von seinem eigenen Epigonen rücksichtslos wegrasiert wurde. Gotthold Ephraim Lessing, geboren 1729 in Kamenz, Sachsen, gestorben 1781 in Berlin, war nicht der erste, aber der erste vernichtende Kritiker deutscher Sprache.

Kritik braucht Öffentlichkeit und die entstand damals. Was man so "Bildung" nennt, hatte die Klöster des Mittelalters und die Akademien der Neuzeit verlassen und war kurz davor, in die Caféhäuser der Städte zu gelangen.

Erasmus und Melanchthon wären gar nicht auf die Idee gekommen, das große Publikum an ihren Disputationen teilhaben zu lassen: Es gab zu ihrer Zeit kein großes Publikum. Für Lessing und Mendelssohn war das schon selbstverständlich.

Unter dem Dach des aufgeklärten Absolutismus wuchs eine autonome bürgerliche Sphäre heran. Und die Menschen lernten das Lesen: Der Analphabetismus ging zurück, Bücher und Zeitschriften wurden zur bürgerlichen Unterhaltung.

Es ist übrigens bemerkenswert, dass die Geburt der Medienlandschaft zu Beginn des 18. Jahrhunderts sofort die Geburt des Special-Interest-Titels sah: Nur in der Differenzierung konnten die Zeitschriften ihre Leser finden, in der Zersplitterung nach Interessen und Disziplinen: Theater, Staatsgeschäfte, Literatur, Philologie, Naturkunde. Die allgemeine Tageszeitung kam erst später.

Eine Reihe junge Leute ist in den letzten 250 Jahren Journalist geworden, bevor sie später was Anständiges gemacht haben. Lessing hat damit den Anfang gemacht. Von seinen Rezensionen und Kritiken in der Vossischen Zeitung sind es 20 Jahre bis zur Hamburgischen Dramaturgie und 30 bis zum Nathan. Und als er 1748 bei seinem Vetter Mylius vorstellig wurde, begründete er nebenbei eine Existenzform, die gerade für Berlin bis heute typisch ist: Die des freischaffenden Schriftstellers und Journalisten.

Viel verdienen konnte man damit schon damals nicht - aber viel brauchte er auch nicht: "Was tut mir das, ob ich in der Fülle lebe oder nicht, wenn ich nur lebe", schrieb Lessing an seinen Vater. Noch so ein Satz, der Goethe nicht eingefallen wäre.

Im Vergleich zu Leipzig und Wittenberg, wo Lessing Theologie und Medizin studiert hatte, war Berlin ein Fortschritt. Aber man sollte sich keine zu großen Vorstellungen vom Berlin dieser Zeit machen: 120 000 Einwohner, davon ein Viertel Beamte oder Soldaten, und ein zynisch-brutaler König, der zwar an seinem Potsdamer Hof das Schlitzohr Voltaire verköstigte, aber in seiner Metropole, preußische Toleranz hin oder her, das Regiment der Zensur von Jahr zu Jahr strenger führen ließ, ganz wie es die auf das Militärische reduzierte Staatsräson notwendig erscheinen ließ.

Als Lessing 1750 das Angebot bekam, so etwas wie der Chefredakteur der Berlinischen privilegierten Zeitung zu werden, lehnte er wegen der Zensur ab; er habe keine Lust, seine Zeit "mit solchen politischen Kleinigkeiten zu verderben".

Die Berlinische privilegierte erschien dreimal wöchentlich, dienstags, donnerstags und am Samstag. 1751 wurde das Blatt nach einem Verlegerwechsel in Vossische Zeitung umbenannt und hieß so bis zur letzten Ausgabe am 31. März 1934. Die Vossische hat einen guten Anteil am Ruf Berlins als Zeitungsstadt.

Der Verleger und Buchhändler Johann Heinrich Voß fügte seiner Neuerwerbung schnell ein Ressort hinzu, das er "Die gelehrten Sachen" nannte, man würde heute sagen ein Feuilleton. Aus dem bis dahin offiziösen Nachrichtenorgan für Staats- und Hofangelegenheiten wurde ein "Intelligenzblatt", mithin eine Art moderner Tageszeitung.

In erstaunlicher Parallele zu heutigen Verhältnissen bot das Feuilleton schon damals dem abweichenden Denken mehr Raum als der politische Teil und darum wurde Lessing 1751 der erste Feuilleton-Ressortleiter. Und weil er offenbar nicht nur ein begnadeter Kritiker war, sondern auch ein geschickter Blattmacher, erfand er eine neue monatliche Beilage: "Das Neueste aus dem Reich des Witzes".

In späteren Jahre legte sich Lessing ein Kürzel zu: "Fll". Seine Opfer leiteten das von "Flegel" ab, er selbst meinte das Lateinische "flagellum", Geißel. Man ahnt schon, dass es kein Vergnügen war, diesem Mann unter die Feder zu fallen.

Ein typischer Artikel Lessings begann etwa so: "Man dachte, die Hudemannische Muse wäre gar vollends eingeschlafen. Aber sie hat sich noch einmal aufgerichtet, sich ausgedehnt und gegähnet. Sie muss aber doch sehr schlaftrunken gewesen sein, weil sie gleich wieder eingeschlafen ist." Wer dem Kritiker das Recht gibt, so mit dem Autor zu verfahren? Er sich selbst.

Nur geschundene Autoren können auf die Idee kommen, der Kritiker müsse sich rechtfertigen. Lessings Biograph Willi Jasper schreibt ein bisschen enttäuscht: "Ein neues Literaturprogramm hatte er nicht zu bieten...Er dachte und formulierte überspitzt, undogmatisch und scharf - aber wenig programmatisch." Lessing hatte seinen Geschmack und sonst keine Maßstäbe. Auch da war er ein Heutiger.

Das Bemerkenswerte an Lessing ist, dass er seinen Ruhm trotz seiner Polemik und Kritik errungen hat. Seine Landsleute konnten damit nämlich bald nicht mehr viel anfangen: Das deutsche Gemüt des 19. Jahrhunderts hatte es lieber waldig-raunend als spöttisch-schneidend.

Seinen Platz im Pantheon der Klassik erhielt Lessing als Trauerspieldichter der Emilia und als Moral-Dramatiker des Nathan. Der andere Lessing, der eines Voltaire und Diderot würdig war, den retuschierten die Deutschen lieber weg.

So wie 1929 jener Braunschweiger Mediziner, der die Ferndiagnose anstellt, Lessings widersprüchlicher Charakter sei eine typische Eigenschaft des "cyklothymen Pyknikers", und solche Menschen neigten nun mal zu jener Krankheit, "die man als manisch-depressives Irresein bezeichnet."

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