Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie "Globalisierung am Ende?" (5):Die Internationale der Technokratie

Alle Länder lösen gemeinsam die Probleme dieser Welt? Das war eine schöne Idee nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber die Völkergemeinschaft wird von krassen Widersprüchen blockiert.

Von Andreas Zielcke

Nach dem Fall der Berliner Mauer schien die Globalisierung unaufhaltsam zu sein. Für Befürworter wie für Kritiker wurde sie zum Begriff unserer Epoche. Eine Serie im SZ-Feuilleton fragt, ob die weltweite Verflechtung in der Ära von Donald Trump, von Populismus und neuem Nationalismus nunmehr ins Stocken gerät - und ob sich die Zukunft überhaupt noch von der Weltgemeinschaft gestalten lässt.sz

Alle bedeutenden Friedensordnungen der Neuzeit entstanden nicht aus freien Stücken, sondern unter dem Leidensdruck verheerender Kriege. Nach dem Dreißigjährigen Krieg errichteten die westfälischen Verträge ein Friedenssystem gleichberechtigter Staaten. Nach den jahrzehntelangen Koalitionskriegen gegen das napoleonische Frankreich erlegte der Wiener Kongress dem Kontinent ein neue Ordnung auf, die allerdings nicht auf Souveränität baute, sondern auf das Gleichgewicht der Großmächte.

Die Monstrosität des Ersten Weltkrieges war es dann, die das klassische Ideal eines völkerrechtlichen Friedenskonzepts wiederaufleben ließ, jetzt in Gestalt eines Völkerbundes, wie ihn bereits Hugo Grotius 300 Jahre zuvor entworfen und nachher Immanuel Kant in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" als "durchgängig friedliche Gemeinschaft der Völker" ausgearbeitet hatte. Schließlich forcierte der Zweite Weltkrieg - obwohl er den Völkerbund auf schlimmstmögliche Weise ad absurdum geführt hatte -, den nächsten Anlauf, die Nationen in einer Rechts- und Friedensunion zu vereinen. Noch während des Krieges wurden die Vereinten Nationen geplant und schon im Juni 1945, noch vor Japans Kapitulation, von 50 Staaten vereinbart.

Menschenrechte? Am Anfang der UN stand kein Prinzipienkonflikt, sondern eine Lüge

Doch wie schon bei den früheren Friedenssystemen sind auch die UN geprägt von der Signatur des Krieges, aus dem sie hervorgingen. Sie bannen die militärische Aggression, bleiben aber den kriegsgeborenen Hegemonien und Allianzen verhaftet. Was beim Wiener Kongress unverhohlene Methode war - die Siegermächte plus das restaurierte Frankreich oktroyierten sich als herrschendes Friedenskartell -, wurde bei den Vereinten Nationen teils negiert, teils offen inszeniert. Auch wenn ihre Gründer erneut das Loblied auf Kants Vision sangen, erschufen sie eine Ordnung von hybrider Natur, die die nationale Selbstbestimmung und die Dominanz der Sieger unter einen Hut zu bringen sucht.

Im Prinzip mischten sie die realpolitische Logik des Wiener Kongresses mit den Idealen des Völkerbunds. Jeder Mitgliedstaat trägt die globale Union gleichberechtigt in der Generalversammlung mit, aber den Siegermächten ist mit ihrem Exekutiv- und Vetorecht im Sicherheitsrat die Führungsgewalt vorbehalten. 1815 waren es die fünf europäischen Großmächte; seit 1945 die fünf (teils ehemaligen) Weltmächte. Treffend beschrieb es der in die Gründungsverhandlung involvierte britische Diplomat Charles Webster in seinem Tagebuch als "Allianz der großen Mächte, eingebettet in eine universelle Organisation".

Bis heute schleppen sich die UN mit dieser Crux herum, die ihnen heillose Funktions- und Legitimitätskrisen beschert. Die andere Crux rührt aus dem in ihre Charta eingeschriebenen Widerspruch zwischen der Autonomie der Mitgliedsstaaten, garantiert durch das Einmischungsverbot, und den Menschenrechten. Die Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948 entstellte diesen Konflikt zur Kenntlichkeit. Seither hat er an Schärfe nicht verloren, auch wenn man mit der "humanitären Intervention" und der internationalen "Schutzverantwortung" für Entrechtete ("responsibility to protect") seit den Neunzigerjahren wenigstens für extreme Menschenrechtsverletzungen einen neuen Ansatz gefunden hat. Von einem Durchbruch kann aber keine Rede sein.

Doch am Anfang war dies weit mehr als nur ein Prinzipienkonflikt, es war eine Lüge - wie so häufig in der Rechtsgeschichte. So wie man in den USA trotz des Bekenntnisses der Unabhängigkeitserklärung, "dass alle Menschen gleich geschaffen sind", unangefochten die Sklaverei fortsetzte, so wie man trotz des französischen Revolutionsversprechens der "Egalité" den Frauen 150 Jahre lang das Wahlrecht verwehrte, so verabschiedete man die UN-Charta und Menschenrechtserklärung ungerührt davon, dass damals mindestens zwei der fünf Großmächte, Frankreich und Großbritannien, gar nicht daran dachten, ihren Kolonialismus aufzugeben. Was also konnten die "Selbstbestimmung der Völker" für kolonisierte oder annektierte Bevölkerungen bedeuten? Offenbar sind universale Rechtsgarantien historisch zuerst nur als falsche Versprechen zu haben, bevor die Betroffenen in der Lage sind, sie wirksam einzufordern. Ironie gibt es im Recht nicht, sehr wohl aber Zynismus.

Trotz alledem wiederholt sich die Geschichte nicht, die UN degenerierten nicht wie der Völkerbund zum politischen Zombie. Und läge der Beweis nur darin, dass es bislang zwar zu vielen regionalen Kriegen kam, aber zu keinem neuerlichen Weltkrieg. Doch welches Verdienst daran auch immer die UN haben, unterhalb des worst case eines Weltbrandes bestand so gut wie nie Einigkeit darüber, was denn unter der Praxis einer verbindlichen Weltgemeinschaft überhaupt zu verstehen ist.

Diejenigen, die von einer Weltpolizei träumten (nicht zuletzt der britische Premier Winston Churchill, der eine eigene UN-Kampftruppe forderte), wurden durch fehlende Durchsetzungsorgane der UN ernüchtert. Ohnehin machte der Kalte Krieg jede Illusion einträchtiger Ordnungsakte der Großmächte hinfällig. Aber von Eintracht waren die Großmächte auch in ihrem Inneren weit entfernt. Den Zwist, der die Lager ideologisch teilte, vor allem innerhalb der USA, gibt es bis heute: Waren die einen Politiker gewillt, Amerika trotz seiner "Exzeptionalität" in eine multilaterale Politik einzugliedern, verlangten die anderen, auch die Weltorganisation den Interessen Washingtons unterzuordnen.

In der Tat stellt sich die Frage, wie Nationalstaat und Internationalismus zu vereinbaren sind, für Großmächte anders als für den Rest der Welt. Sollen sie ihre hegemoniale Stärke in den Dienst der Weltunion stellen? Oder umgekehrt diese Union für ihre Zwecke instrumentalisieren? Zweifellos verlangt der Kantianische Idealismus den kleineren Mächten weniger Selbstdistanz und Vernunft ab als den ganz großen. Die beiden Weltmächte USA und Sowjetunion haben sich meist für die zweite Variante entschieden, wenn auch oft rhetorisch kaschiert. Allerdings setzte Washington selbst in den Phasen, in denen hier die Unilateralisten politisch die Oberhand hatten, den Eigensinn zumindest in den ersten Jahrzehnten nicht derart rabiat durch wie Moskau. Allein in den ersten sechs Jahren nutzten die Sowjets ihr Vetorecht 47 Mal, die USA innerhalb von 20 Jahren gar nicht.

Aber die beiden Großmächte kollidierten nicht nur im Sicherheitsrat. Besonders in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wetteiferten sie aggressiv um eine neuartige Imperialstrategie. Neuartig, weil die beiden nicht mehr, wie beim Imperialismus des 19. Jahrhunderts, Länder der südlichen Hemisphäre kolonisieren wollten, sondern weil sie nun ganz im Gegenteil den Freiheitskampf noch immer kolonisierter Bevölkerungen mit allen, auch militärischen Mitteln unterstützten, um die jungen Nationen auf ihre jeweilige Seite zu ziehen. Im Namen eines auf Weltfrieden ausgerichteten Internationalismus schürte man in Afrika und Asien das Feuer des Befreiungsnationalismus. Um die Welt zu vereinen, spaltete man sie auf.

Doch unfreiwillig trugen die Supermächte damit zum Erstarken und Selbstbewusstsein der "Dritten Welt" bei, die sich ihrerseits bald von ihnen zu emanzipieren suchte und, als "Bewegung der blockfreien Staaten", die UN aus ihrer Blockstarre löste. Mit der weiteren Folge, dass die UN-Generalversammlung sich immer öfter mehrheitlich gegen die fünf Vetomächte positioniert. Was die Völkergemeinschaft wiederum noch frustrierender blockiert.

Führte aber die parteiliche politische Befreiung in das eine Dilemma, so die Befreiung von der Armut in das andere. Immerhin hat auch hier die Lager-Rivalität nachhaltige Impulse ausgelöst und das Konzept der "Entwicklung" auf die internationale Tagesordnung gesetzt. Doch auch das von den UN im Jahr 1965 ins Leben gerufene "Development Programme" verhinderte nicht, dass man sich in die Haare bekam, diesmal über Idee und Stoßrichtung der Modernisierung "unterentwickelter" Länder - und damit über die ökonomische Integration der Welt.

Sollten diese Länder den Industrieländern nacheifern? Oder sollten sie einen eigenen Weg einschlagen, zumal der Rückstand nicht nur bei den ärmsten Nationen auf absehbare Zeit uneinholbar war? Für den industrialisierten Westen war es eine Scheinfrage, er hielt an seinem Ordnungsmuster auch für die Weltwirtschaft fest. Im Süden aber forderte man eine "neue Weltwirtschaftsordnung" mit geregelten Rohstoffpreisen und fairen, auf ihre Nöte zugeschnittenen Handelsbeziehungen. Kapitalismuskritik rüttelte in den Sechzigerjahren ja auch die westliche Öffentlichkeit auf, doch auch dieser zusätzliche Drive änderte nichts an der vorherrschenden Weltökonomie. Den armen Ländern blieb nur, sich mit ihr zu arrangieren.

Die Stunde der Wahrheit kam für sie immer dann, wenn sie Kredite bei der Weltbank oder gar beim Internationalen Währungsfonds (IWF) aufnehmen mussten. Speziell diese beiden Organe beweisen, wie sehr die Weltgemeinschaft im Vergleich zur Völkerbundzeit an Handlungsfähigkeit dazugewonnen hat. Ihre Durchsetzungskraft war gewaltig. Vor allem der IWF nötigte den Schuldnerländern durch die Konditionen, der er mit der Kreditvergabe verband, nicht nur fiskalische Rosskuren auf, sondern tief greifende Umbrüche ihrer staatlichen und privatwirtschaftlichen Struktur.

So wandelte sich die Weltgemeinschaft zu einer Paternalismusagentur: Trotz universeller Souveränitätsgarantie bevormundete man die verschuldeten Nationen, als seien sie wieder Mandatsgebiete, jetzt aber der internationalen Kreditgeber. Je weniger Rücksicht man auf andersartige Traditionen und Denkweisen nahm, desto eher gerieten viele IWF-gelenkte Länder erst recht in die Krise. Bis heute sind es fast nur Schwellenländer, die potent genug sind, um ihren Entwicklungspfad zum Globalmodell des Nordens mehr oder weniger souverän verfolgen zu können.

Noch fataler aber für den ideellen Anspruch der Völkergemeinschaft wurde, dass sowohl die beiden rivalisierenden Großmächte der Nachkriegszeit als auch das mechanische nation building à la IWF der Prämisse folgten, dass die Stabilität der politisch und ökonomisch protegierten Nationen absoluten Vorrang hatte vor einer demokratischen Struktur. Lieber autoritäre Regimes, auf die man zählen konnte, als unberechenbare Demokratien.

Stets begründet man dies auch damit, dass nur stabile Regierungen vor Zerfall, Gewalt und Krieg schützen. Doch jeder weiß um die Scheinheiligkeit dieses Vorwands. Ohne integrierende politische Teilhabe, ohne Gewaltenteilung und Rechtsstaat, also ohne innerstaatliche Friedlichkeit ist auf Dauer auch der äußere Frieden nicht zu wahren. Eigentlich eine schlichte Erkenntnis, die zudem ein erklärtes Credo des Westens ist, der sich selbst "freie Welt" nennt. Aber auch dieses Bekenntnis ist noch lange nicht beim Wort genommen.

Seit Mitte der Siebzigerjahre hat sich der Prozess der Vergemeinschaftung noch einmal heftig verschoben, bis heute. Wurde Entwicklungsökonomie bis dahin vor allem an der Frage gemessen, durch welche staatlichen und internationalen Programme man den ärmeren Nationen auf die Sprünge helfen kann, so gilt seit der neoliberalen Wende eine neue Priorität.

Ein globales Expertenwesen anstelle von politischer Steuerung - dabei darf es nicht bleiben

Von nun an setzt man für den Entwicklungsschub aller Länder, und damit auch für die schwachen, primär auf den Markt statt auf staatliche Nachhilfe. Ökonomische Anreize, steuerliche Privilegien, Investorenschutz, Freihandelsverträge, Deregulierung, Präparieren für den Finanzmarkt, das waren und sind die neuen Instrumente, die allen, den wohlhabenden wie den armen Ländern am besten nutzen sollen.

Auch hier ist guter Wille am Werk, man muss den Urhebern nicht nur Ausbeutung unterstellen, selbst Kant versprach sich von der Verdichtung der internationalen Handelsbeziehungen eine friedlichere Welt. Was er aber noch nicht voraussehen konnte, uns aber spätestens jetzt, nach jahrzehntelanger Erfahrung mit der Marktentfesselung, vor Augen steht, ist die Tat- sache, dass zwar viele Völker von der offensiven Marktintegration profitieren können; dass aber anfänglich bestehende Ungleichgewichte sich zu immer krasseren Ungleichheiten auswachsen, von neuen Abhängigkeiten ganz zu schweigen. Die Welt rückt zusammen und differenziert sich dramatisch und ungerecht aus.

Zurzeit sind keine politischen Kräfte zu sehen, die den Prozess des Zusammenfindens und Auseinanderfallens zumindest abfedern könnten. Fest steht nur, dass der Neonationalismus auf den Holzweg führt. Weniger auffällig, aber noch schwerer aufzuhalten ist ein zweiter Trend. Anstelle eines global government, einer utopischen Weltregierung, zeichnet sich real eine global governance ab. Das ist keine politische Zentrale, sondern ein loses, aber höchst wirksames transnationales Netzwerk von Fachgremien, Absprachen zwischen multinationalen Firmen, Expertenrunden, Freihandelssystemen, Schiedsgerichten, Davos-Treffen, Rating-Agenturen und vielen indirekten Lenkungsmechanismen mehr. Die Sorge, dass die Demokratien marktkonform gemacht werden, verfehlt diese Gefahr im Hintergrund. Die Internationale der technokratischen Instanzen droht zum falschen Ferment der Weltvergemeinschaftung zu werden.

Die viel beklagte Globalisierung kann gar nicht das Hauptproblem der Völkerunion sein, es ist die Entpolitisierung ihrer Steuerung. Die UN sind ein - lahmendes - Befriedungsprogramm, politisch effizient wachsen die Nationen nur zusammen, wenn sie die Globalisierung nicht als Naturgewalt über sich ergehen lassen, sondern als zu gestaltendes Projekt begreifen.

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Quelle:
SZ vom 09.05.2017
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