Im 19. Jahrhundert war der Hafen von New York die Austernhauptstadt Nordamerikas. Später wurde es Chesapeake Bay, nahe Washington, D.C. Die Austern im New Yorker Hafen sind verschwunden, die in Chesapeake gehen zurück, und viele andere Reviere müssen nach und nach aufgeben. Dieser Trend ist nicht nur auf die Vereinigten Staaten beschränkt. Ein Papier der Nature Conservancy von 2011 berichtet über einen weltweiten Rückgang der Austernriffe um 85 Prozent. Die Elbmündung hat einen ebenso großen Verlust an Austern erlitten wie die Mündung des Hudson.
Fukushima-1 und Deepwater Horizon zeigen, wie planlos und stümperhaft Katastrophenmanagement oft betrieben wird - weil im Bemühen um moderne Technologien die Kosten für deren Risiken oft außer Acht gelassen werden.
(Foto: dpa)Die letzte große Bastion der wilden Auster auf der Nordhalbkugel ist ihre südlichste Hochburg - der Golf von Mexiko. Und darum waren die "Lösungen", die im Golf im Laufe des letzten Jahres ausprobiert wurden, so verheerend. Wenn wir die Austern in Louisiana und die Fischereibranche, die um sie herum entstanden ist, verlieren, dann werden wir den letzten lebenden Beweis verlieren, dass wilde Austern und der Mensch miteinander zum beiderseitigen Vorteil auskommen können.
Und es regneten noch mehr schlechte Lösungsversuche buchstäblich auf die Austernfischer herab. Nachdem man "Junk Shots", "Top Kills" und die Süßwasserumleitungen ausprobiert hatte und damit gescheitert war, schlossen sich die Austernfischer den heldenhaften Versuchen an, das Öl von der Wasseroberfläche zu entfernen, nur um eine Dusche des Lösungsmittels Corexit aus Flugzeugen abzubekommen, die über sie hinwegbrausten. Insgesamt gerieten mehr als 470.000 Liter Corexit ins Wasser. Eine Aktion, die das an der Oberfläche schwimmende, möglicherweise abschöpfbare Öl in einen glitschigen, unsichtbaren Todesengel verwandelte.
Das Öl sank ins Meer und tötete nicht nur einfach viele Tiere, die im Golf laichten und brüteten, sondern vielleicht gar mehr als die nächste Million dieser Neugeborenen. Es war ein erheblicher Schlag für Amerikas vielleicht wichtigste Fischbrutstätte; einem lebenswichtigen Laichgrund für den Roten Schnapper, die Westatlantische Landkrabbe, den Blauflossen-Thunfisch, den Schwertfisch, die Weiße Garnele, die Graue Krabbe, die Stachelmakrele und Aberdutzende weitere Arten von großer Bedeutung.
Selbst wenn durch irgendein Wunder kein signifikanter Rückgang bei den Fischen im Golf auftreten sollte, werden die Golf-Fischer auf Jahre hinaus damit leben müssen, dass der Ruf ihrer von ihnen so geschätzten Fische und Meeresfrüchte getrübt sein wird. Obwohl unzählige Testergebnisse besagen, dass Meeresfrüchte aus Louisiana weit unterhalb der akzeptablen Grenzwerte für Verunreinigungen mit Kohlenwasserstoff liegen, hat eine jüngst erfolgte Befragung von 18 Restaurants aus dem ganzen Land ergeben, dass nur 19 Prozent der Gäste dieser Restaurants im Jahr 2010 eine gute Meinung von Meeresfrüchten aus dem Golf hatten, während es vor der Ölpest 75 Prozent waren.
Ich würde gerne wissen, welche Branche einen solchen Imageschaden überstehen könnte.
Aber Fisch und Meeresfrüchte sind nicht nur ein Geschäft für die Austernsammler, Garnelenzüchter und Krabbenfischer von Louisiana. In den ländlichen Gebieten des Staates sind sie die Schlüsselzutaten einer Art Grundmahlzeit. Unten an den brackigen Überlaufkanälen und den milchteefarbenen Bayous, wo die meisten Fischer leben, ist das Standardmaß für die heimischen Meeresfrüchte ein "Sack". Ein "Sack" ist ein Leinenbeutel, der ungefähr achtzehn Dutzend Austern, siebenunddreißig Dutzend Flusskrebse oder fünfzig Dutzend Bigano-Meeresschnecken fasst. Jedes dieser Tiere kann in jedem beliebigen Monat der Fischsaison im Sack landen, und es kommt durchaus vor, dass eine Familie in den Bayous mehrmals pro Woche den Inhalt eines Sacks an nur einem einzigen Tag vertilgt.
Es ist vielleicht eine der schlimmsten Sachen, die man in Louisiana heutzutage erleben kann, wenn ein Austernsammler sich Sorgen macht, ob er seine heimischen Meeresfrüchte noch essen sollte - die ihm doch eigentlich das Teuerste auf der Welt sind.
Nun ist also ein Jahr vergangen. Die Umweltjournalisten sind größtenteils von Louisiana nach Japan weitergezogen, um zu beobachten, wie der Ozean selbst die "Lösung" für das jüngste menschengemachte Hightech-Problem wird - als Mittel um Hitze und Strahlung aus einem Reaktor abzuführen, den man überhaupt nie so nah ans Meer hätte bauen dürfen.
Komplexe Technik zu entwerfen und umzusetzen ist teuer und erfordert erhebliche Investitionen von privaten Kapitaleignern, der öffentlichen Hand oder beiden zusammen. Und im Bemühen solche Technologien erschwinglicher erscheinen zu lassen, seien es Kernkraftwerke an einer erdbeben- und tsunamigefährdeten Küstenlinie oder Ölquellen, die 1600 Meter unter der Meeresoberfläche angebohrt werden, unterlassen es ihre Verteidiger immer wieder, die Kosten für den Schutz von Dingen wie Fisch und Meerestieren in die Gesamtrechnung mit einzubeziehen.
Die Nahrung, die wir dem Ozean entnehmen ist von astronomischem Wert, sie ist die entscheidende Proteinquelle für buchstäblich Milliarden Menschen weltweit.
Man fragt sich, wann der moderne Mensch sich endlich die Zahlen ansehen und erkennen wird, dass er nicht Atome spalten und Öl vom Meeresboden saugen kann, wenn der Preis dafür ist, dass kein gesundes Essen mehr auf den Tisch kommt.
Paul Greenberg ist ein amerikanischer Autor und Essayist. Soeben erschien von ihm "Vier Fische: Wie das Meer auf unseren Teller kommt" im Berlin-Verlag.