Neue SZ-Serie: Die grüne Frage:Der Mann, der nicht mehr weinen kann

Während Berlin über die "Zeitbombe Atomenergie" diskutiert, ist einer dabei, der wirklich weiß, wovon die anderen sprechen: Wladimir Gudov, Liquidator von Tschernobyl. Teil 2 der SZ-Serie "Die grüne Frage".

Thorsten Schmitz

Wladimir Gudov ist der einzige Mensch in der Urania, der Krawatte trägt und einen Anzug. Einen Nadelstreifenanzug, wie die Broker in London. In seiner Aktentasche aus braunem Leder liegen Visitenkarten, ein Buch und Augentropfen. Auf den Visitenkarten steht sein Name und eine Internetadresse. Es ist kein Link, der auf eine Seite mit Aktienkursen führt, es ist Gudovs Aufschrei: www.postchernobyl.kiev.ua. Auf dem Buchcover sieht man Männer, die Uniformen tragen, keine Nadelstreifenanzüge. Männer mit Schaufeln.

Kernkraftwerk Tschernobyl

Der Tod ist messbar: Spezialeinheiten beim Erfassen der Radioaktivität in Tschernobyl. Auch Wladimir Gudov war ein Helfer der ersten Stunde. Und hat seine Geschichte aufgeschrieben.

(Foto: dpa)

Das Buch erzählt Gudovs Geschichte, die Geschichte seiner Verstrahlung. Gudov ist ein Handlungsreisender in Sachen GAU.

Um ihn herum im Saal der Urania tragen die Menschen Cordhosen, Wollpullis, lila Schals, manche haben ihre Schuhe ausgezogen. Man sieht junge Menschen mit Rastalocken und ältere mit selbstgeschmierten Broten in einer Hand, die andere fängt die Krümel auf. Die Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs/Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) hat zum Kongress geladen, Thema ist: "25 Jahre nach Tschernobyl - Zeitbombe Atomenergie". Jeder Vortrag endet mit demselben Satz: Stoppt die Atomenergie! Dann wird geklatscht. Es ist, als beklatschten die Menschen sich selbst.

Am Sonntag wurden Preise vergeben, die Nuclear-Free Future Awards an jene, die schon immer vor den Gefahren von Atomenergie warnten, auch, als das gerade mal out war. An die ZDF-Journalistinnen Barbara Dickmann und Angelica Fell etwa, die sich bei ihren Recherchen zu der seltsamen Häufung von Leukämiefällen in der Umgebung des Kernkraftwerks Krümel von der Atomlobby nicht haben einschüchtern lassen.

Die Pressesprecherin der deutschen Sektion von IPPNW sagt, vor fünf Jahren habe man dieselbe Veranstaltung gehabt, 20 Jahre nach dem GAU in Tschernobyl. Damals sei es schwer gewesen, Interesse zu wecken. Das Thema Atomenergie war in der Schublade gelandet. Die Katastrophe von Fukushima hat es da wieder herausgeholt. "Wir sind überrannt worden von Anfragen", sagt sie.

In der Urania werden "Atomkraft - Nein danke!"-Sticker verkauft. Ein Euro das Stück. Auf der Rückseite hat sich Rost gebildet. Rost? Die Sticker, erklärt der Verkäufer, hätten bei ihm im Keller gelegen, jahrelang. Wegen Fukushima hat er sie wieder hervorgekramt. Er kann gar nicht genug verkaufen von den Vintage-Buttons.

Wladimir Gudov sitzt in der ersten Reihe des Urania-Saals, rückt die Krawatte zurecht, fährt sich durchs Haar. Eine Wolke aus Rasierwasser umgibt ihn, als habe er darin gebadet. Gut riechen ist ihm wichtig. Noch heute steckt ihm ein metallischer Geruch in der Nase, wenn er sich an die Tage im April 1986 erinnert. Es ist der Geruch von Radioaktivität. Gudov ist einer der Liquidatoren von Tschernobyl. Als Armeeoffizier hatte er wenige Stunden nach dem GAU den Befehl erhalten, mit seinen Soldaten Sand aus Hubschraubern in den Reaktorkern zu schütten. Dann sind sie auf die Dachtrümmer geklettert.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum Gudov so müde ist.

Die Grausamkeit der schönen Bilder

Dass er noch lebt, ist ein Wunder, haben ihm die Ärzte gesagt. Von seinem Einsatz in Tschernobyl gibt es keine Fotos, nur Bilder im Kopf. Sie kommen nachts, wenn er vor Kopfschmerzen nicht einschlafen kann. Er fragt, ob man ihn fotografieren könne. Er möchte eine Erinnerung an den Tschernobylkongress.

Im Foyer steht Robert Knoth an einem Stand und verkauft sein Fotobuch. Viele Bücher ist er noch nicht losgeworden. Das mag an den Bildern liegen, die selbst für Atomkraftgegner schwer verdaulich sind. Es sind schöne Schwarzweißfotos von Menschen aus der Ukraine, Weißrussland und Russland.

Man sieht Wälder und Sonnenlicht, das sich in den Blättern bricht, endlose Weiten und Menschen. Manche schauen ernst, andere spielen Fußball und lachen. Wenn man die Texte zu den Fotos liest, verlieren die Bilder ihre bloße Schönheit. Ein Foto zeigt einen Jungen in einem Wohnzimmer neben einem Sofa, hinter ihm eine geblümte Tapete. Der Bildtext sagt: "Pavel, 4, zweimal Augenkrebs".

Wer kauft so ein Buch? Der Fotograf sagt: "Menschen, die die Augen nicht verschließen." Für einen Moment stellt man sich vor, welche Gedanken der Vorstandschef von Vattenfall hätte, würde man ihm so ein Buch schenken. Aber Menschen, die Atomkraft für eine saubere Energie halten, sind nicht in die Urania gekommen. Es ist ein Kongress für die, die schon immer gegen Atomkraft waren. Sie versichern sich gegenseitig ihrer Angst und bleiben unter sich. Einmal aber sind sie am Wochenende auch nach draußen gegangen, wo es Menschen gibt, die nicht grün wählen und der Meinung sind, ohne Atomstrom würde Deutschland im Dunkeln liegen.

Um Punkt 14 Uhr taten die Kongressteilnehmer vor der Berliner CDU-Zentrale so, als seien sie tot umgefallen. Blieben auf der Straße liegen, als sei gerade überm Tiergarten eine Atombombe abgeworfen worden. Dumm war nur, dass Samstag war und nur der Pförtner der CDU-Zentrale dem gespielten Massensterben zusah.

Man könnte sagen, auf dem Kongress haben die Atomkraftgegner sich selbst gefeiert, aber das wäre unfair. Es gibt nichts zu feiern. Höchstens das: Dass ihnen die Welt jetzt endlich mal wieder zuhört. Manchen versagt die Stimme, wenn sie einen Vortrag halten sollen, wie etwa Katsumi Furitsu, der Strahlenexpertin aus Osaka. Sie ist extra nach Berlin geflogen, um zu erzählen, wie verstrahlt Japan bereits jetzt schon ist.

Auf ihrem Laptop sieht man Gänseblümchen, die sich auf einer Wiese im Wind bewegen. Also die heile Welt. Von der unheilen redet sie, bis sie schlucken muss, weil ihr die Tränen kommen. Ein Bauer in der Nähe von Fukushima habe sich vor ein paar Tagen das Leben genommen, weil er sein Gemüse nicht mehr verkaufen kann. Und die Cäsium-137-Strahlung um Fukushima sei bereits jetzt zehnmal höher als in der Gefahrenzone von Tschernobyl.

In der Zone also, in der Wladimir Gudov im Sommer 1986 im Einsatz war. Morgens um fünf Uhr sind sie damals aufgestanden, 16 Stunden hat er jeden Tag Sand und Blei in den Reaktor geschüttet. Tagelang hat er nicht geduscht. Es sei wahnsinnig heiß gewesen, alle hätten geschwitzt, erzählt er im Stehen, mit einem Glas Orangensaft in der Hand. Irgendwann hätten er und seine Männer die Gasmasken abgenommen.

Zwanzig Jahre hat Gudov geschwiegen. Dann hat er sich hingesetzt und seine Erinnerungen aufgeschrieben. Ein Buch ist daraus entstanden, ein Verlag in Kiew hat 1000 Exemplare gedruckt. Gudov möchte jetzt, dass auch die Menschen in Deutschland sein Buch lesen können. Er sucht einen Verlag. Auch deshalb trägt er einen Anzug und die Aktentasche mit sich.

Es ist jetzt kurz vor Mitternacht, Gudov steht vor der Urania. Er wollte frische Luft atmen. Müde ist er. Eigentlich ist das sein Dauerzustand, müde zu sein. Die Strahlung hat sein zentrales Nervensystem beschädigt und die Blutgefäße verengt. Er ist sehr nervös und immer unendlich müde. Er trinkt keinen Alkohol, raucht nicht, macht Sport. Er weiß, es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Jeden Moment kann bei ihm Krebs diagnostiziert werden.

Er ist jetzt 55 Jahre alt und Frührentner. Er bekommt nur noch die Hälfte von seiner 250-Euro-Rente, weil die Regierung in Kiew es nicht gerne hat, wenn Liquidatoren Bücher über Tschernobyl schreiben. Gudov lächelt, aber man merkt, dass ihn das Lächeln Überwindung kostet.Die Strahlung auf dem Reaktordach war so intensiv, dass seine Augenlinsen geschädigt wurden. Sie hat auch seine Tränenkanäle zerstört. Seit Tschernobyl kann Gudov nicht mehr weinen.

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