SZ-Reihe über Globalisierung (1):Ist die Globalisierung am Ende?

Containers are seen at the Yangshan Deep Water Port, part of the Shanghai Free Trade Zone, in Shanghai

Warenströme, Datenflüsse, Weltkultur: Geht das alles immer so weiter, oder wird jetzt gebremst? Blick auf einen Container-Umschlagplatz in Shanghai

(Foto: REUTERS)

Jahrzehntelang schien ihr Fortschreiten unaufhaltsam. Doch mit dem Erstarken des Nationalismus und der Wahl von Donald Trump hat sich die Lage geändert.

Von Johan Schloemann

Als diejenigen, die heute 25 Jahre alt sind, geboren wurden, in den Neunzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts, da ging es richtig los mit der Karriere der "Globalisierung".

Brutalste ethnische Kriege auf dem Balkan oder in Ruanda? Der Aufstieg des religiösen Fundamentalismus? Rechtsradikale vor Asylbewerberheimen? Das waren nach dem Fall der Mauer Dinge, die man erst einmal gerne ignorierte oder als retardierende Momente ansah. Stattdessen verbreitete sich damals eine heute nur noch schwer vorstellbare Euphorie über das Zusammenwachsen der Welt, bald auch begleitet von einem heute ebenso schwer vorstellbaren Fanatismus der Kritik an der Globalisierung und den Gipfeltreffen ihrer Freunde aus Politik und Wirtschaft.

Und heute? Die Vernetzung und wirtschaftliche Verflechtung der Welt ist weitergegangen, es gab Wohlstandsgewinne in ärmeren Gegenden und Stagnation in noch ärmeren, es gibt Marktgewinner und neue Verlierer in den reichen Ländern, es sind ganze Bibliotheken von differenzierter Literatur über die Globalisierung gewachsen, es kam zu gewaltigen politischen Verwerfungen durch Ungleichheit, Klimawandel, Bürgerkriege, Urbanisierung, Terrorismus, Migration, Datenströme, Hackerangriffe, Turbofinanzmarkt und gute alte Faktoren wie Korruption, Kriminalität und Nationalismus. Aber "die Globalisierung", die scheint immer noch unverändert da zu sein.

Der Begriff ist unersetzlich und zugleich ausgelutscht

In seinem neuen Essayband "Die Flughöhe der Adler" warnt der Globalhistoriker Jürgen Osterhammel vor einer quasi-theologischen Verwendung des Begriffs. Die Globalisierung drohe eine Allgegenwart und Allmacht anzunehmen wie früher die Geschichte, Gott, die Modernisierung, der Fortschritt oder der Klassenkampf. Und in der Tat ist das seltsam: Obwohl "Globalisierung" grammatisch einen Prozess ausdrückt und Akteure voraussetzt, verwendet man das Wort oft als schicksalhaften Epochenbegriff. Er changiert rätselhaft zwischen Teleologie und Ist-Zustand, er scheint jedes kleine menschliche Drama auf der Welt irgendwie zu betreffen und ist doch viel zu groß, um fassbar zu sein.

In der politischen Debatte gerät die Globalisierung zur Leerformel, ähnlich der Feststellung, man brauche oder biete irgendetwas "für das 21. Jahrhundert". Der Begriff der Globalisierung ist so unersetzlich und zugleich so ausgelutscht, dass man fast die Frage vergisst, wie es wirklich darum steht, ob sie wirklich einfach immer weitergeht.

Doch unversehens, als hätte man ganz kurz nicht aufgepasst, wird jetzt eine Bremsung spürbar. Nach dem Schock der Finanzkrise vor bald zehn Jahren wurde oft noch, wie realistisch auch immer, ein Narrativ der Erholung bemüht, als sei eine zyklisch auftretende Krankheit bald wieder auskuriert. Doch mit der Zeit sahen Ökonomen Anzeichen für eine bleibende Verlangsamung der Globalisierung, einen chronischen Schnupfen, auch wenn unsicher ist, nach welcher Datenlage und welchen Kriterien man das eigentlich genau bemisst.

Neue Identitäts- und Systemkämpfe stehen bevor

Eine Studie des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, "The Global Trade Slowdown", erkannte jedenfalls Anfang 2015 weltweit nicht bloß konjunkturelle, sondern strukturelle Hindernisse. Und auch wenn es seit dem Herbst 2016 Anzeichen für eine Belebung des Welthandels gibt, sehen Ökonomen viele Risiken, von der historisch einmaligen Geldschwemme bis zu Populismus und Protektionismus, wobei die größte Angst natürlich ist, dass US-Präsident Donald Trump seine Androhungen von Strafzöllen und Handelskriegen wahrmachen könnte.

Aber es geht keineswegs nur um Sorgen um die Weltwirtschaft und Wachstum - sowie die Frage, ob man dessen Priorität überhaupt noch akzeptiert. Es geht um die Weltsicht unserer Zeit. Zuvor dominierten noch ethische Dilemmata die Debatte, die auch nach wie vor bestehen: Machen wir uns wegen der Hungerlöhne schuldig, für die unsere Textilien genäht werden - oder ist der Job der Näherin in Bangladesch ein Aufstieg im Vergleich zur ländlichen Mittellosigkeit? Was nützt der Verzehr von regionalen Bio-Produkten, wenn die Menschen in Somalia in der Dürre verhungern? Spricht, wenn nicht gegen Flüchtlingshilfe, so doch gegen die Armutsmigration, dass die Zurückgebliebenen nur noch mehr ausbluten, wie der Philosoph Julian Nida-Rümelin in seinem neuen Buch "Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration" schreibt?

Jetzt aber kommen viel stärker wieder Identitäts- und Systemkämpfe hinzu, Brüche zwischen Universalisierung und lokaler Verwurzelung, die man lange nur als verständliche, aber überwindbare Fortschrittshindernisse betrachtet hat. Selbst hierzulande herrscht da eine ziemlich verwirrte Stimmung, obgleich Deutschland zu den großen Gewinnern der Globalisierung gehört. Es ist nicht unbedingt reaktionär, sich zuallererst um seinen Nahbereich zu kümmern, aber bei vielen verriegelt diese Sorge inzwischen komplett das vielbesungene globale Bewusstsein - auch wenn die Menschen immer mehr von diesen Nahbeziehungen und ihrem Konsum in der Provinz über Netzwerke und Server globaler Kommunikationsgiganten regeln.

Fast auf der ganzen Welt scheint sich die Wahrnehmung zu verschieben. Beispielsweise ließ der Harvard-Historiker Akira Iriye noch den 2013 erschienenen letzten Band einer großen Weltgeschichte ("1945 bis heute - die globalisierte Welt") mit der unerschütterlichen Feststellung enden: "Alle Länder, Menschen, Religionen und Kulturen sind miteinander verflochten." Und weiter: "Die Transnationalisierung der Menschheit ist unabweisbar, und sie ist ein Produkt all der Kräfte, die die Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg angetrieben haben."

Auf Weltwirtschaftstreffen wird heute gesprochen wie früher auf Antifa-Konferenzen

Wie anders klingt das bei dem Politologen Ulrich Menzel, dem Verfasser des Riesenwerks "Die Ordnung der Welt" (2015), der wie viele derzeit einen Rückschritt der Globalisierung feststellt und unlängst im Freitag sagte: "Die Idee, dass durch Kooperation eine Win-win-Situation entsteht, die für alle von Vorteil ist, wird abgelöst durch die Vorstellung von der Welt als Nullsummenspiel. Was der eine gewinnt, muss ein anderer verlieren. (...) Wir erleben gerade das Ende einer Welt unter amerikanischer Führung, die wir schätzen gelernt haben und die für uns sehr bequem war."

Weltwirtschaftstreffen klingen in ihrer Angst vor Nationalismus wie Antifa-Konferenzen. Man sieht sich herausgefordert durch die These des Harvard-Ökonomen Dani Rodrik, von den drei Dingen Nationalstaat, Demokratie und Globalisierung könne man immer nur höchstens zwei auf einmal haben. Der Politikberater Jürgen Turek beschwört in seinem gerade erschienenen Buch "Globalisierung im Zwiespalt" (einem ziemlich wilden Zusammenschrieb) "die postglobale Misere". Der jüngste Titel des Wirtschaftsjournalisten Henrik Müller wiederum heißt "Nationaltheater: Wie falsche Patrioten unseren Wohlstand bedrohen". Auch sonst verschieben sich Fronten: Chinas Kommunisten kämpfen für den Freihandel. Die Linken lassen sich derzeit gerne "liberal" nennen, nur um den Mindeststandard an Demokratie zu verteidigen, was sie aber auch wiederum von den globalen Fragen ablenkt, bis hin zu einem neu belebten linken Nationalismus.

All das ist Grund genug zu erkunden, ob die Globalisierung nun wirklich am Ende ist oder eine Pause macht - und wie sich die neue Lage beschreiben lässt. Eine Reihe von Artikeln im SZ-Feuilleton soll das in den nächsten Wochen versuchen. Wie konnte es zum Zusammenbruch der internationalen Zusammenarbeit kommen, wie er gerade wieder in Syrien zu sehen ist? Warum werden derzeit die Gefahren der weltweiten Digitalisierung gegenüber den Gewinnen (über)betont? Wie aufhaltsam ist die wirtschaftliche Verflechtung und Dynamik? Was ist eigentlich aus der linken Globalisierungskritik geworden - ist sie etwa komplett nach rechts gewandert? Ist die Idee einer globalen Kultur abseits der kreativen Eliten hinfällig, oder sind die Leute nur ein bisschen diversitätsmüde?

Oder etwas pathetischer gesprochen: Interessiert uns das Schicksal der Welt, auf der wir leben, überhaupt noch?

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