Süddeutsche Zeitung

SZ-Edition Soulmates:Eis und Aprikose

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Die Bücher von Joe Brainard und Robert F. Scott enthalten Erinnerungen, und natürlich sind sie völlig unterschiedlich. Der erste umkreist das Ich, der zweite will zum Südpol.

Joe Brainard hat die bildende Kunst ebenso beeinflusst wie die Literatur. Er verkehrte im Umfeld der "New York School" der frühen Sechzigerjahre, des Beginns der Pop-Art. Seine Assemblagen, Collagen, Zeichnungen und Gemälde, seine Illustrationen und Buchcover, Bühnenbilder und Entwürfe für Theaterkostüme lassen sich keiner Richtung zuordnen. Das gilt ebenso für seinen literarischen Stil, besonders für "Ich erinnere mich", von dem Paul Auster sagt, dass es eines "dieser seltenen Bücher ist, die einen ein Leben lang bereichern." Brainard wirft darin eine Erinnerungsmaschine an, die fast 1 500 kleine Bruchstücke aus Kindheit und Kunst, zu Familie, Essen, Kleidung, Sexualität, Schule, Körper, Geschichte und Politik hochwirft und verwirbelt, nur um sie mit dem nächsten Satz und immer derselben Einleitung: "Ich erinnere mich..." wieder einzufangen. Auf "Ich erinnere mich an das einzige Mal, dass ich meine Mutter weinen sah. Ich aß einen Aprikosenkuchen" folgt fast unmittelbar: "Ich erinnere mich, wie gut ein Glas Wasser nach einer Portion Eis schmecken kann." Glasklar sind diese Fragmente - "Ich erinnere mich, dass das Leben damals schon so schwer war wie heute" - doch nirgends macht die Erinnerung Halt, würdigt sie eine Besonderheit oder Bedeutung. Und doch ist es unmöglich, sich ihrem Sog zu entziehen.

Die "Terra-Nova-Expedition" ist Gegenstand der Tagebucheinträge von "Letzte Fahrt". Sie war die zweite Antarktis-Expedition des Briten Robert Falcon Scott, und sie stand unter keinem guten Stern. Widrige Umstände gab es, sicher. Aber auch mangelnde Vorbereitung, Überheblichkeit und einen krankhaften Ehrgeiz, der selbst grobe Fahrlässigkeiten in Kauf nahm, um im Wettlauf um die Eroberung des Südpols der Erste zu sein. Doch was heißt hier Eroberung? Mit seinem ehemaligen Gefolgsmann Ernest Shackleton hatte Scott sich überworfen, als die "Terra Nova", am 29. November 1910 mit der 64-köpfigen Mannschaft, 19 Ponys, 33 Hunden und drei Motorschlitten an Bord von Neuseeland aus Richtung Süden aufbrach. Kurz zuvor hatte er erfahren, dass der Norweger Roald Amundsen ebenfalls Richtung Südpol unterwegs war. Dieser würde den dramatischen Wettlauf gewinnen, Scott dabei umkommen. "Es ist ein Jammer, aber ich glaube nicht, dass ich noch weiter schreiben kann", lautet sein letzter Eintrag vom 29. März 1912. Erst acht Monate später wurden die Leichen von Scott und seinem Team gefunden.

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SZ vom 15.11.2019 / SZ
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