SZ-Diskothek:Der ewig coole Klang

Mit einer einzigen Platte eine Revolution anzetteln, das geht heute nicht mehr - warum die Krise der Popmusik die Chance eröffnet, ihre großen Momente wiederzuentdecken.

von PhilippOehmke und Johannes Waechter

Lou Reed musste bis nach Prag fahren,um endlich die Wahrheit über die Kraft der Popmusik zu erfahren: Es ist ein Tag im Sommer 1990, fast zwanzig Jahre nachdem sich Reeds legendäre Band The Velvet Underground aufgelöst hat. Der Musiker kommtnachPrag, um Václav Havel zu treffen, den Schriftsteller und Bürgerrechtler, seit einem halben Jahr Staatspräsident der Tschechoslowakei.

SZ-Diskothek: Musik, die den menschlichen Geist erweckt - mitVelvet Undergroundwar Lou Reed auf dem richtigen Weg.

Musik, die den menschlichen Geist erweckt - mit

Velvet Underground

war Lou Reed auf dem richtigen Weg.

(Foto: Foto: AP)

Beim Gespräch auf der Prager Burg erfährt Reed Erstaunliches über die Wirkung seiner Musik. Havel erzählt, wie er 1968 bei einem Besuch in New York die Velvet-Underground-Platte White Light/White Heat gekauft und mit nach Hause genommen habe. Kaum in Prag angekommen, inspirierte die LP zahlreiche tschechische Musiker dazu, Bands zu gründen. Die beste dieser Bands, Plastic People Of The Universe, wurde nach Ende des Prager Frühlings zum Symbol für den Widerstand gegen das neue Regime des moskautreuen Gustáv Husák.

Doch 1976 verhaftet der Staatsschutz die Bandmitglieder bei einem illegalen Konzert. Havel erzählt weiter, wie er eine Kampagne für die Freilassung der Musiker auf die Beine gestellt habe, bis sich sogar angesehene Wissenschaftler und Künstler für die Rocker mit den langen Haaren einsetzten. Aus dieser Kampagne, fährt Havel fort, wurde die Bürgerrechtsbewegung Charta 77, bis zur Wende im Jahr 1989 Zentrum der tschechoslowakischen Opposition.

Havel ist am Ende seiner Geschichte. "Damit will ich ausdrücken", sagt er dann zu Reed, "dass Musik, Underground-Musik, und insbesondere eine Platte von Velvet Underground eine recht bedeutende Rolle in der Entwicklung meines Landes gespielt hat."

"Sie glauben und beweisen, dass Musik die Welt verändern kann", sagt Reed. "Nicht allein, dazu reicht Musik nicht aus", entgegnet Havel. "Aber Musik kann entscheidend dazu beitragen, denn sie erweckt den menschlichen Geist."

Mit dem Sprachgefühl des Dichters bringt Havel die Wirkungsmacht von Popmusik auf den Punkt: Sie gibt Anstöße zur Veränderung der Welt, weil sie den menschlichen Geist erweckt; ebenso Herz und Körper, bliebe hinzuzufügen, ein Fakt, den Václav Havel bestimmt nur wegen seines ehrenwerten Staatsamtes verschweigt.

Auch wenn sich politische oder soziale Umwälzungen selten so unmittelbar auf ein einziges Exemplar einer einzigen Platte zurückführen lassen wie im Falle von Havels Velvet-Underground-LP, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass Popmusik die westliche Welt in den vergangenen 50 Jahren geprägt hat wie keine andere Kunstform.

Pop ist lange der wirtschaftliche Motor der westlichen Konsumkultur gewesen und trotzdem nie komplett zur Ware geworden, so dass die großen Momente der Popmusik, in Reihe gebracht, heute eine Chronik unserer Zeit ergeben, die unmittelbarer und wahrhaftiger ist als jene, die bei der Betrachtung politischer Ereignisse entsteht.

Ohne nostalgischen Einschlag hier eine kurze Erinnerung an ein paar Errungenschaften des Pop, die weiterhin nachklingen. Als Elvis tausende Mädchen zum Kreischen bringt, erfindet er den Teenager und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Mitte der Sechziger begründen Bob Dylan, die Beatles und die Rolling Stones die Gegenkultur - eine lose Ansammlung von Menschen, die die Moral der Spießer wegfegen und die bestehenden Gesellschaften toleranter für andere Lebensentwürfe machen wollen.

Zehn Jahre später etabliert die Disco-Bewegung den Club als utopischen, den Zwängen des Alltags entrückten Ort der Ekstase und Selbstvergessenheit.

Der ewig coole Klang

Gleichzeitig führen Punkbands wie die Sex Pistols ein neues Repertoire an Protestformen für all jene ein, die um jeden Preis ihre Andersartigkeit bekräftigen wollen. Und als Nirvana "Smells Like Teen Spirit" singen und Kurt Cobain sich zweieinhalb Jahre danach mit einer Flinte in den Mund schießt, wird einer ganzen Generation auf brutale Weise die Wahrheit nahe gebracht, dass eine Rebellion davon profitiert, ein Ziel zu haben.

SZ-Diskothek: Kurt Cobain, Frontmann von Nirvana, der letzte Rockrebell. Mit seinem Selbstmord am 5. April 1994 endete die wütende Phase des Rock.

Kurt Cobain, Frontmann von Nirvana, der letzte Rockrebell. Mit seinem Selbstmord am 5. April 1994 endete die wütende Phase des Rock.

(Foto: Foto: dpa)

In den letzten fünf Jahrzehnten hat Popmusik der Jugend in den Industriestaaten verschiedenste Möglichkeiten an die Hand gegeben, sich durch Musikgeschmack, Kleidung, Lebensstil oder Szenezugehörigkeit von anderen abzugrenzen, sich bedeutend zu fühlen, sprich: cool zu sein.

Für Neil Young ist das sogar eine Art Grundrecht. In seinem Song "Rockin' In The Free World" stellt er bei der Beschreibung eines obdachlosen Kindes Coolness in eine Reihemit Schule und Verliebtsein, definiert dieses Gefühl als essenziell für eine komplette Jugend.

Zwar war stets ein gewisser Aufwand nötig, um cool zu sein - kaum einer wurde es automatisch, manche nie, trotz der richtigen Musik und den richtigen Klamotten. Eigentlich aber konnte jeder mitmachen bei diesem großen Spiel, konnte seinen ganz und gar individuellen Platz im Netz der Szenen und Stile suchen: und Körper und Geist im günstigen Moment durchmitreißende Musik erwecken lassen.

So fuhr Pop lange zweigleisig: als eher fortschrittliche kulturelle Bewegung; und als Baukasten, aus dem sich eine Identität konstruieren ließ. Fast 50 Jahre lang funktionierte dieses Prinzip einwandfrei, inzwischen ist es in die Krise geraten.

Natürlich ist eine solche Behauptung immer gefährlich - wird die Krise des Pop doch stets von jenen beschworen, deren Zeit selbst längst vorbei ist, gerne von Männern Mitte Vierzig übrigens, die den paar aufregenden Pop-Momenten ihrer Jugend interhertrauern - Ja, Punk, das war noch was! Und Bob Dylan! - und dabei nicht mitbekommen, wie in ihrem Rücken ein junges Produzentenduo neue Sounds erfindet.

Der letzte große Klagegesang über den Untergang des Pop war vor einigen Jahren zu vernehmen, als Fernseh-Casting-Shows aufkamen wie Deutschland sucht den Superstar. Der englische Journalist Tony Parsons, ein Wortführer der Punk-Bewegung, schrieb im Herbst 2002, echte Popmusik sei "eine aussterbende Kunst, wie das Schmiedehandwerk." An die Stelle der Liebe zur Musik sei der Starkult getreten, der unbedingte Wille, berühmt zu werden.

Nun wird heute gewiss nicht weniger gute Musik gemacht als zu anderen Zeiten. Doch liegt ein Unterschied darin, dass die Wege des Pop inzwischen in zahllose Kleinszenen führen, die nebeneinander existieren und ihre Fans oft weiterhin mit toller Musik versorgen; die Kraft dieser Musik ist jedoch nicht mehr gebündelt, es fehlt die Breitenwirkung.

Der ewig coole Klang

Schon lange kam kein Musiker mehr nach oben, der die Gefühle einer großen Anzahl Menschen artikulieren, ihnen gesellschaftliche Resonanz geben konnten. Und wenn Robbie Williams, der jüngste unter den neuen Riesenstars, "Let Me Entertain You" singt, dann versteht er eben nur dies als seine Aufgabe - und erzielt keine Wirkung jenseits der Mädchen, die in jeder Stadt sein Hotel belagern.

Auch die Strokes, Adam Green oder Wir sind Helden haben sicherlich den Nerv der Zeit getroffen, allerdings mit Retro-Musik, die sich ungeniert auf früher bezieht. Ein Sinnbild für diese Entwicklung ist ebenfalls der Niedergang von HipHop: Einst als Ghetto-Musik mit starkem politischem Einschlag gestartet, erschöpft sich das Genre nun in der Verherrlichung von Sex, Drogen und Waffen.

Viel ist geschrieben worden über die wirtschaftliche Krise der Musikindustrie, hervorgerufen durch das illegale Herunterladen von Songs aus dem Internet; vergleichsweise wenig über die künstlerische Krise, die diese technischen Umwälzungen nach sich ziehen. Denn natürlich mindert es die Durchschlagskraft eines Albums, wenn es nur als Datenmenge auf einer Festplatte existiert und nicht berührt, nicht bewundert, nicht studiert werden kann.

Gleichzeitig wird der Umgang mit Pop von einer zielgerichteten Suche nach Musik und Rollenmodellen zu einer wahllosen Angelegenheit: 14-Jährige lagern inzwischen gigantische Mengen an Musik auf ihren Computern, mehr, als jeder Fan früher in einer lebenslangen Laufbahn als Schallplattensammler erwarb - und viel zu viel, um darin noch die Verbindung zum eigenen Leben zu entdecken. So verliert Popmusik nach und nach ihre sinnstiftende Kraft und wird zu einem mehr oder weniger austauschbaren Unterhaltungsinstrument der Konsumindustrie.

Im vergangenen Jahr wurde aus England gemeldet, dass die 40-Jährigen erstmals mehr Platten kauften als die Teenager. Das liegt sicherlich auch daran, dass es eher Jugendliche und nicht deren Eltern sind, die sich Songs aus dem Netz ziehen. Andererseits kommen wir jetzt an der Frage nicht mehr vorbei, inwieweit Pop nach 50 Jahren tatsächlich noch Jugendmusik sein kann.

Es ist ja nicht so, dass ältere Pop- und Rockfans nur für Stars aus irgendeiner Vorzeit schwärmten; viele haben über Jahre hinweg ihren Geschmack gebildet und hören nun ihren Kindern die neue Musik einfach weg. Zu überraschen sind diese älteren Hörer jedenfalls nicht mehr, der zirkuläre Rhythmus des Popgeschäfts führt ihnen bekannte Trends und Moden in angepasster Form immer wieder neu vor die Nase, wie einen Koffer, den keiner vom Gepäckband nimmt. Mit Musik zu schocken, sie zu Konfrontation und Abgrenzung zu nutzen, scheint kaum noch möglich: gab es ja alles schon.

Verliert die Popmusik also ihren Status als "Gegenmacht" , wie der Popexperte Diedrich Diederichsen einmal formulierte? Tatsächlich scheint die gesellschaftliche Kraft des Pop zu schwinden. Die Apologeten der Popkultur mögen diese Entwicklung beklagen, andererseits ergibt sich aus ihr jedoch ein überraschender Vorteil.

"In der Ordnung von Pop spielt Musik nicht die entscheidende, oft nur eine untergeordnete Rolle", schrieb Diederichsen 1994. Und genau das ist heute anders. Je geringer der gesellschaftliche Überbau des Pop, desto mehr rückt der eigentliche Ursprung zurück ins Zentrum: die Musik. Heute gilt es somit, die Popmusik der vergangenen 50 Jahre wiederzuentdecken - auf ein Neues, frei von Ideologie und Vorurteilen. Natürlich weniger die Beatles, Rolling Stones und Velvet Underground - deren Hits können wir immer noch im Schlaf singen.

Vielmehr all die wunderbaren Songs aus all den Stilen, die nur vereinzelt ihren Weg in die Hitparaden und zu den Hörern gefunden haben - sei es, weil sie als uncool galten, sei es, weil der Künstler zu sperrig war. Oder sei es auch nur, weil sie ihrer Zeit voraus oder hinterher waren.

Lange hieß es, Popmusik sei eine im Wesentlichen aktuelle Kunst, die so schnell veralte wie eine Tageszeitung. Doch in Wirklichkeit ist Pop von zeitloser Kraft.

Wer in der Musik nach Ekstase, Trost und Erbauung sucht, wird ebenso in fünf wie in fünfzig Jahre alten Aufnahmen fündig werden. Wenn Marvin Gaye "What's Going On" singt, so rührt sein Unbehagen über den Zustand der Welt noch genauso die Herzen wie 1971, als die gleichnamige Platte erschien.

Und fünf Jahrzehnte Popmusik haben kaum ein Lied hervorgebracht, das den Zusammenhang von Liebe und Zerstörung in ähnlich einprägsame Worte kleidet wie "I Walk The Line" von Johnny Cash. Mit einer einzigen Platte eine Revolution anzetteln, das geht heute nicht mehr. Doch den Geist, den Körper und das Herz wird Popmusik immer erwecken.

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