Die viel beschworene offene Stadtgesellschaft, sie fordert die Demokratie heraus, und sie fordert die Menschen heraus. "Wir leben in schwierigen Zeiten." Sagen die einen. Weil sie gefordert sind, weil sie sich eine Meinung bilden sollen, weil sie sich einbringen müssen und nicht alles "denen da oben" überlassen dürfen. "Wir leben in herrlichen Zeiten." Sagen die anderen. Weil sie gefordert sind, weil sie sich eine Meinung bilden dürfen, weil sie sich einbringen können und nicht alles "denen da oben" überlassen müssen. Ja, wir, die wir Bürger einer Stadtgesellschaft sind, leben vor allem in ambivalenten Zuständen. Manchmal nicht ganz einfach, vielleicht oft fordernd, aber sicher auch reich an Möglichkeiten.
Zu einer Debatte über Öffnung und Demokratie, über Öffentlichkeit und Mitbestimmung gerade im Stadtraum hatte die Münchner Stadtbibliothek im Gasteig in ihrer dritten Ausgabe des interdisziplinären Symposiums "Public!" am Donnerstag und Freitag eingeladen. Die Vorgängerausgaben hatten sich noch stark auf die Rolle öffentlicher Bibliotheken und ihres Bedeutungswandels in der Wahrnehmung und Nutzung der Menschen weg vom elitären Wissensspeicher und Wissensbewahrer hin zum interaktiven Wissensvermittler und zum Aufenthaltsort für viele Gruppen der Gesellschaft konzentriert. Das diesjährige Symposium kuratiert von Anke Buettner von der Münchner Stadtbibliothek und moderiert von der Stadtplanerin Frauke Burgdorff machte den Raum im Wortsinn auf. Vom geschlossenen Raum der Bibliothek weitete man den Blick mit Hilfe zahlreicher Vortragender hinaus in den offenen Stadtraum, in die digitale wie die analoge Stadtgesellschaft hinein.
Doch dabei schwang immer mit: Derzeit werden Diskussionen oft aus diametral entgegengesetzten und scheinbar unversöhnlichen Positionen mit harten Bandagen geführt. Diskussionen, die nicht auf Konsens ausgerichtet, sondern von Egoismus geprägt sind. Wohl auch deshalb braucht jede Freiheit eine Begrenzung. Ganz nach der Kant'schen Maxime, wonach die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo die Freiheit des Anderen beginnt.
So stellte man sich eine ganze Reihe von Fragen: Welche Kultur und welche Institutionen sind notwendig, um die Offenheit der Stadtgesellschaft zu moderieren und zu kuratieren? Wer kann in mehrheitlicher Übereinstimmung Leitlinien anbieten, ohne Meinungen vorzugeben? Was können Bibliotheken, Museen, Theater und Kulturzentren beitragen, um Gemeinsinn jenseits von Filterblasen zu fördern? Welche Rolle spielen lokale Gruppen oder Organisationen dabei? Wie können öffentliche Räume gemeinsam für eine Gesellschaft gestaltet werden, die Komplexität als Gestaltungsauftrag annimmt?
In dem vielstimmigen und mitunter auch disparaten Chor der Symposiumsteilnehmer, der keine eindeutigen Antworten, aber zahlreiche Anregungen gab, kam unter anderem die Kulturtheoretikerin Gesa Ziemer zu Wort. Sie forscht zu Formen urbaner Öffentlichkeit und Praktiken der Teilhabe und plädierte für eine Stadtgestaltung, die nicht nur von Planern und Politikern bestimmt wird, sondern von "Bewohnern, normalen Menschen, Bürgern". Im Zuge einer Verdichtung der Städte und einer ungeheuren Zahl von Restriktionen sei eine offen Bürgerbeteiligung von Nöten. Es gehe um "Stufen der Partizipation", so Ziemer. "Doch wenn eine Stadt das ernst nimmt, dann muss sie die Prozesse ändern." Öffentlicher Raum sei frei nach Alexander Kluge immer auch "Erfahrungsraum, wo ich vertrauen kann und wo ich mich austauschen kann".
Notwendig seien also vertrauensbildende Maßnahmen. Dazu zählen, so die Leiterin des City Science Lab, einer Kooperation mit dem MIT Media Lab in Cambridge: Offenlegen von Daten, Transparenz und Nachvollziehbarkeit schaffen, gemeinsam Szenarien entwickeln und Kompromisse finden sowie auch Ambivalenzen aushalten. Interessant auch der Punkt: Komplexität darstellen, statt einfach Lösungen zu propagieren. Denn, so Ziemer, "die Crowd kann ziemlich dumm und störrisch sein. Aber durch Beteiligung und gemeinsame Entscheidung wird Verständnis geweckt." Was nichts anderes heißt, als dass alle erst einmal kapieren müssen, dass die Welt nicht schwarz und weiß ist und einfache Lösungen in der Regel nur etwas vorgaukeln. Ja, das kann anstrengend sein, aber nur wer sich auch ein bisschen anstrengt, wer aufeinander zugeht und gemeinsam an Lösungen arbeitet, kann hinterher von "unserer" Lösung und einem "Wir" sprechen.
Stadtplanerisch, wenn auch von teilweise unterschiedlichen Standpunkten aus, argumentierten auch die nachfolgenden Redner: Die Architektin und Aktivistin vom Haus der Statistik Berlin, Andrea Hofmann, und der Architekt und Vorstand Kooperative Großstadt München, Markus Sowa. Die Berliner haben mit ihrem Konzept "Aufbauen statt Abreißen" und dank einer extrem ausgeprägten partizipativen Beteiligung der Bevölkerung besagtes Haus gerettet. Auch deshalb setzt Hofmann auf offene Netzwerke und kooperative Stadtentwicklung.
Markus Sowa, der auf das von der Kooperative Großstadt auf den Weg gebrachte genossenschaftliche Wohnbauprojekt "San Riemo" in München-Riem einging, betonte zwar auch Beteiligung und Partizipation, Offenheit und Öffentlichkeit, sprach sich aber vor allem für eine "Teilnahme im Großen und Ganzen, aber nicht im Detail" aus. Sein Plädoyer: Maximale Transparenz im Planungsstadium, aber Verschärfung statt Nivellierung im weiteren Verfahren. "Nicht jeder muss bei jedem mitquatschen", so sein Fazit. Und mit Verweis auf den Ort des Symposiums und die aktuelle Debatte um die Zukunft des Gasteigs - wo, so könnte man sagen, viele Köche den Brei verdorben haben - hatte er da auch die Lacher auf seiner Seite.
Das alles hatte konkret nicht sehr viel mit der Zukunft der Bibliotheken zu tun. Klar aber wurde, ob im Stadtraum oder in Kulturinstitutionen: Wichtig sind Orte der Ambivalenz, an denen diskutiert wird, an denen Menschen sich gerne aufhalten und die Freiräume für Ideen schaffen.