Süddeutsche Zeitung

"Sylvie's Love": Filmkritik:Black Love Matters

Marvel-Heldin Tessa Thompson liebt und leidet ganz unpolitisch im Harlem der frühen Sechzigerjahre. Ist das Verrat am Black Cinema?

Von Josef Grübl

Da steht sie also in ihrem blauen Abendkleid und wartet. Und wartet. Ihre Konzertbegleitung hat sie versetzt, alle anderen gehen rein, Sylvie bleibt allein vor der Tür. Ausgerechnet in dem Augenblick kommt der Mann vorbei, den sie gerade am allerwenigsten brauchen kann: Robert war ihre große Liebe, die beiden haben sich aber seit Jahren nicht mehr gesehen. Damals hat er sie geschwängert und ist nach Paris abgehauen. Ausgerechnet nach Paris, die Stadt der Liebenden! So fangen Melodramen an.

Das Melodram, einst beim Publikum sehr beliebt, muss heute ein Nischendasein führen, irgendwo zwischen Fernsehfilm der Woche und Teenager-Schmonzette. "Sylvie's Love" ist weder das eine noch das andere. Der Film von Eugene Ashe ist für ein erwachsenes Kinopublikum gedacht - und pandemiebedingt bei Amazon Prime Video gelandet. Als Zeit der Handlung hat sich der New Yorker Regisseur für sein selbst verfasstes Drehbuch das Harlem der frühen Sechzigerjahre ausgesucht. Dort ist er aufgewachsen, dort kennt er die Menschen. Seine Figuren sind fast ausschließlich schwarz.

Tessa Thompson, die in der Serie "Westworld" dabei ist und im Marvel-Universum die Valkyrie an der Seite von Thor war, unter anderem in "Avengers: Endgame", spielt Sylvie. Der ehemalige American-Football-Profi Nnamdi Asomugha gibt ihren einstigen Lover Robert. In langen Rückblenden erfährt man, wie sie sich Ende der Fünfzigerjahre in einem Plattenladen kennenlernen. Da er Jazzmusiker ist und sie Jazzplatten verkauft, haben sie sich auch von Anfang an etwas zu sagen. Sie schwärmen von Thelonious Monk, Sonny Rollins, John Coltrane - und bei so vielen Gemeinsamkeiten schwärmt man irgendwann auch von sich selbst.

Eine schwarze Liebesgeschichte, die wie ein verlogenes weißes Vorstadtmärchen wirkt

Die Filmmusik ist unfassbar cool, die Bilder von Kameramann Declan Quinn stehen ihr in nichts nach: "Sylvie's Love" sieht genauso aus wie ein Film aus jener Zeit, mit seinen satten Technicolor-Farben, den artifiziellen Dekors und kunstvoll komponierten Einstellungen könnte er auch von Douglas Sirk sein, dem absoluten Meister des Melodrams. Man darf sich aber fragen: Würde Sirk seine Filme im 21. Jahrhundert noch genauso drehen wie damals? Wohl eher nicht. Warum erzählt also ein schwarzer Filmemacher im Jahr 2020 eine schwarze Liebesgeschichte wie eines dieser verlogenen weißen Vorstadtmärchen aus dem Fünfzigerjahre-Hollywood?

Das kann man als Verrat am Black Cinema sehen, an all den politisch engagierten Filmen von Spike Lee, Barry Jenkins oder Ava DuVernay. Man könnte "Sylvie's Love" aber auch als eine Art filmische Emanzipation oder wenigstens als Erweiterung des Genrespektrums einordnen. Natürlich sind Themen wie Rassismus oder Klassenkampf wichtig, wenn man sie aber automatisch in jedem afroamerikanischen Film erwartet, verlieren sie an Kraft. Eugene Ashe erzählt auf den ersten Blick völlig unpolitisch; er zeigt, dass die heimlichen Wünsche, Begierden und Leidenschaften der Menschen unabhängig von Hautfarben sind.

Ganz neu ist das nicht, Todd Haynes versuchte mit dem seinerseits von Douglas Sirk inspirierten, meisterhaften Technicolor-Melodram "Far from Heaven" aus dem Jahr 2002 etwas Ähnliches. Doch während Haynes die stilistische Vorlage nutzte, um über in den Fünfzigerjahren unerhörte Themen wie Homosexualität oder Rassismus zu erzählen, hangelt sich Ashe brav an den Konventionen des Genres entlang. Sylvie und ihr Love Interest Richard sind zwar schwarz und haben einen erleseneren Musikgeschmack als die Figuren aus den Filmen von Douglas Sirk. Mit ihren ewig hehren Motiven und dem ständigen Hang zur Selbstaufopferung unterscheiden sie sich aber kaum von ihnen.

Sylvie, USA 2020 - Regie: Eugene Ashe. Mit: Tessa Thompson, Nnamdi Asomugha, Eva Longoria, 114 Minuten, bei Amazon Prime Video.

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