Süddeutsche Zeitung

Svein Jarvolls "Melbourne-Vorlesungen":Das Latschende hat System

In Norwegen ist die Postmoderne untrennbar verbunden mit dem Namen Svein Jarvoll. Die Übersetzungen seiner Werke ins Deutsche waren lange überfällig. Endlich sind sie da.

Von Wolfgang Hottner

Während die Mode der Neunzigerjahre seit einiger Zeit ein Revival erlebt, lässt sich das für die literarische Postmoderne eher nicht behaupten. Selbstreferenzielle Plotstrukturen, Metafiktionstürme aufgepumpte Intertextualität - all das ist irgendwie schlecht gealtert. Zugleich, auch das lässt sich nicht leugnen, sind die autofiktionalen Memoir-Experimente der letzten Jahre ohne diese formalen Innovationen nicht denkbar. Was bleibt also heute noch von diesem Schreiben?

Diese Frage lässt sich probeweise auch an das Werk des norwegischen Lyrikers, Romanschriftstellers, Essayisten und Übersetzers Svein Jarvoll stellen. Neben den Übersetzungen, unter anderem von Sappho und Antilochos, ist Jarvolls Werk relativ schmal: Er debütierte 1984 mit dem Langgedicht "Thanatos. Ein polyphones Gedicht über den Tod", vier Jahre später erschient sein einziger Roman "Eine Australienreise", der ihn (zumindest in Norwegen) berühmt machte und dort die literarische Postmoderne einläutete: Der experimentelle Text besteht aus zwei aufeinander zulaufenden, aber eher lose miteinander verbundenen Teilen, die auf fragmentarische Weise von allem Möglichen erzählen.

Nachdem im letzten Jahr bereits "Eine Australienreise" und "Thanatos" in der Übersetzung von Matthias Friedrich bei Urs Engeler erschienen, liegen nun auch Jarvolls "Melbourne-Vorlesungen" zum ersten Mal auf Deutsch vor. Darin geht es um einen Schriftsteller, der den Namen des Autors trägt, in Nordnorwegen lebt, und im Victoria Writer's Centre in Melbourne zwei Vorträge über sein Spezialthema halten soll: die Labyrinthologie.

Der Erzähler kommt nicht weit, sondern sinniert über das Mysterium der Schrift

Trotzdem sind die "Melbourne Vorlesungen" weder eine Poetikvorlesungnoch ein Reisebericht. Zwar reist der Vortragende nach Alexandria, um auf den Spuren des griechischen Lyrikers Konstantionos Kavafis zu wandeln, doch die abschweifige Faszination für Abseitiges, Nebensächliches, Obskures verhindert den Fortgang der Reise und den der Erzählung. Jarvoll selbst bezeichnet die Essaysammlung "Die Melbourne-Vorlesungen" im Vorwort als "disformal" und sich selbst als "ärmlichen Laboranten", der "in wiederholten Verwirrungen und verwirrten Wiederholungen um seine eigenen Labyrinthe herumlatschte".

Das Latschende hat System: die "Bibliotheksratte Jarvoll" kommt nicht weit und möchte das auch gar nicht: er sinniert viel lieber über das "Mysterium der Schrift", über die Wirkung von rhetorischen Figuren und erinnert sich in einer der schönsten Passagen des Buchs an sein autodidaktisches Griechischstudium: während des Schichtdienstes in einer Schokoladenfabrik büffelt der Hilfsarbeiter Jarvoll Grammatik und wird seit dem die Assoziation von Homer und Zartbitterschokolade nicht mehr los, für immer ist "das Griechische verbunden mit dem Geruch von Schokolade, halb süß, halb bitter, sodass jede Süße einen Schatten Bitterkeit besitzt, bittersüß ist ein Januswort, die Härte und Bitterkeit der Kakaobohne, die orchestrale Süße eines Geleetrüffels, sie schmilzt im Mund, bis der Mund ganz schmilzt."

Das Labyrinthische ist dabei nicht nur Jarvolls Thema, sondern auch formales Programm: Immer enger scheinen die Wege und Abzweigungen seiner Gedankengänge mit der Zeit zu werden, immer umwegiger, dunkler und abseitiger - es dauert anfangs ein wenig, bis man sich einen provisorischen Überblick geschaffen hat, um dann nach ein paar Seiten wieder an einer Kreuzung verschiedenster Themen zu stehen.

Jarvolls akrobatische Beschreibungsexzesse entwickeln auf Deutsch eine eigene Strahlkraft

Die manchmal arg scholastische anmutende Trockenheit von Jarvolls Windungen und Wendungen wirkt in der brillanten Übersetzung von Matthias Friedrich fast spielerisch und frisch, ohne dass die ausgestellte Schwierigkeit des Originals versteckt oder geglättet würde. Friedrichs kristalline und gewitze Übersetzung bildet Jarvolls Labyrinthen nicht nur ab, sondern baut hin und wieder Nebenwege dazu, findet Fluchtwege aus der seriousness postmoderner Selbstbeweihräuchung.

Besonders deutlich wird das anhand von Jarvolls akrobatischen Beschreibungsexzessen, die in Friedrichs Übersetzung eine ganz eigene Strahlkraft entwickeln: "Die pissgelben Eisbuckel, mit denen die Bergvorsprünge gepanzert waren, sonderten unter sengender Sonne eine ölige Glätte ab, der eine oder andere hochtönende Tropfen fiel unter die irisierten Eizapfenorgelpfeifen, die in schweren Trauben vor den Felshöhlen hingen, im winterfalben Gras schmolz der schluffige Trampelspurenschnee zu Elefantenspuren, und quickes Wasser - funkelnd, rinnend, rieselnd, siehend, schlängelnd - flocht über der ganzen Bergseite, von den sichtbaren, aber nicht einzeln hörbaren Bachstummeln am obersten Punkt auf dem Rand des Talgrundes seine hellen Fäden zusammen, am Talgrund, wo das dunkle, breite Band des Flusses Bardu, von allem merkwürdig unberührt, auf festem Kurs dem Meer entgegensegelte."

Allein für die Schönheit solcher Ausblicke lohnt es sich, Jarvolls Intertextualitätsgebirge zu durchqueren, etwas verpeilt durch die Labyrinthe zu wandern - mit Plateauschuhen und Trainingsjacke kommt man aber nicht weit, festes Schuhwerk ist sicherlich empfehlenswert.

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