Zuerst die gute Nachricht: Das unterkühlte Erzählen in deutschen Debüt-Romanen (manche machen dafür ja die Nachwuchsarbeit des Leipziger Literaturinstituts verantwortlich) bekommt Konkurrenz. Der neue Sound, der in Kat Kaufmanns Debüt-Roman angeschlagen wird, pflegt nicht mehr die Tristesse einer sorgenfreien Mittelschicht, sondern feiert die Krassheit, ist ungehobelt, ruppig und geht volles Risiko, auch auf die Gefahr hin, peinlich zu sein. Schade nur, und das ist die schlechte Nachricht, dass das meiste davon im Kopf der Hauptfigur stattfindet, die da in "Superposition" durch Berlin stromert.
Izy Lewin heißt die Ich-Erzählerin dieses Romans, eine 26-jährige - ja was? - Berlinerin aus St. Petersburg? Deutsch-Russin jüdischen Glaubens? Izy treibt wie ein Korken auf einem Fluss durch die Stadt, die mit den ramschigen Stichwörtern des Berlinmarketings versehen ist: Koks, Supermarkt-Alkis, Partys, auf denen Menschen Masken tragen, nächtliche Fotosessions, natürlich nackt. Izy bestellt irgendwo ein russisches Gedeck (Wodka und Kaffee), klimpert zum Gefallen von Geschäftsleuten in einem Nobelhotel auf dem Klavier herum, steigt in das Auto eines Freundes, wo noch der Slip der letzten Geliebten liegt, kotzt in einer Klubtoilette, besucht die Eltern, fährt U-Bahn, raucht und plaudert mit Freunden, hat Sex mit Timur Hertz, ihrem Schwarm, der aber mit Astrid zusammen ist, leidet an der Liebe, aber eben vor allem an den Fragen, die ihr die eigene Identität so stellt: Wer sie denn bitte schön sei und was sie aus ihrem Leben machen soll. "Nichts ist übrig von früher", denkt sie. "Das Land, das ich besser kenne als jedes andere, ist jetzt Deutschland. Deutschland. Deutschland. Über. Alles. Plattitüden, gutes Benehmen und Ordnung. Aber mein alter Spielplatz ist hier nicht."
Denn die Identitätsangebote, die für Izy bereitstünden, lehnt sie ab: Israel ist für sie ein waffenstarrender Sicherheitsstaat, aus dem ihr Kindergasmasken mitgebracht werden, Russland kommt erst recht nicht in Frage. Auch dem Judentum erteilt die Nihilistin Izy eine Absage. Und weil eine Bastelidentität keinen Halt gibt, wählt sie den denkbar krassesten Weg, verletzt sich selbst und verbirgt sich vor der Welt in einem Krankenhaus.
Kat Kaufmann selbst wurde in St. Petersburg geboren und lebt jetzt als Schriftstellerin, Komponistin und Fotografin in Berlin. Für "Superposition" erhielt sie den Aspekte-Literatur-Preis - ein Roman, der mit ausgedehnten Dialogen bestritten wird, wirren Schrumpfszenen und Substantiv-Reihungen: "Autobahn, graue Autobahn, Rauschen der Autos, hohe grüne Bäume, Brücken, Schilder". Und dann sind da noch die russischen und englischen Sprachsprengsel, die Kaufmann wie Gewürze in ihre Sätze streut.
Kurz blitzen manchmal sprachliche Goldnuggets auf
An manchen Stellen kann man einen neuen, interessanten Ton wahrnehmen, sprachliche Goldnuggets, die kurz aufblitzen: "Es ist unerträglich heiß. Als würde ich aufquellen und zu saurer Milch werden". Oder auf einem von Izys Streifzügen: "Es ist dunkel und die Schilder der Dönerbuden leuchten wie Discoeingänge." Viel zu oft aber setzt Kaufmann allein auf rotziges Pathos und matt gewordene Berlinbilder: "Und so warten wir auf die Bahn zum Kotti. Sprachbarrieren, klaffende soziale Stufen? No fucks given. Wer sich hier herumtreibt, kann was ab. Berlin, die Hure, die jeden reinlässt, der keine Angst hat vor Dreck."
Immerhin kann man sich dazwischen an Izys Gedankenwut wärmen. Und an ihren Gefühlen für die eigene Familie, für Babuschka Ella, die Großmutter, die zu Aerobic-Fernsehsendungen durchs Wohnzimmer tanzt. Izy Lewin durchlebt die Krise einer 26-Jährigen auf der Suche nach sich selbst. Andere müssen ihre Jugendkrise mit weniger exotischen Biografien bestreiten.