Süddeutsche Zeitung

"Sunset" im Kino:Vor Einbruch der Nacht

Budapest am Vorabend des Ersten Weltkriegs, eine Stadt voll düsterer Ahnungen - der Film "Sunset" von László Nemes.

Von Philipp Stadelmaier

Der Schleier wird zurückgeschlagen, darunter erscheint Iris. Eine junge Frau mit Hut. In einem Geschäft, in dem Hüte hergestellt und verkauft werden. Iris ist in Budapest, um 1910, so hat es der Vorspann ausdrücklich mitgeteilt. In erster Linie aber ist sie mitten in einer Umgebung, die ihr fremd und undurchsichtig erscheint. Nun, da der Schleier zurückgeschlagen ist, kann das Abenteuer beginnen.

Man reicht Iris Leiter (Juli Jakab) verschiedene Hüte, die sie anprobiert. Man hält sie für eine Kundin. Ist sie aber nicht. Sie ist hier, so sagt sie, wegen einer Stelle. Man führt sie zum Chef. Der Chef erstarrt. Die Ähnlichkeit, so sagt er, sei verblüffend. Die Ähnlichkeit zu wem? Zu ihren Eltern, denen der Laden früher gehört hat, einer der renommiertesten und vornehmsten der österreichischen k. u. k. Monarchie - hier hat, der Legende nach, Kaiserin Sisi einst bei der Hutprobe eine Haarnadel verloren. Die Eltern kamen unter seltsamen Umständen ums Leben, als Iris noch klein war. Sie kam auf ein Internat und wurde später nach Triest geschickt, um selbst zur Hutmacherin ausgebildet zu werden. Nun ist sie zurückgekommen, als junge Frau, und nach vielen Jahren der Abwesenheit, um hier zu arbeiten. In jenem Laden, der noch immer ihren Familiennamen trägt: "Leiter". Und um nach etwas zu suchen, oder eher: nach jemandem.

"Sunset", der neue Film von László Nemes, lief letztes Jahr auf den Filmfestspielen in Venedig. Berühmt wurde der ungarische Filmemacher schon mit seinem ersten Langspielfilm, dem starken und verstörenden "Son of Saul", der mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. Hier entdeckt ein Mann des Sonderkommandos in Auschwitz in den Gaskammern eine Leiche, in der er seinen Sohn zu erkennen glaubt. Der Film begleitet ihn wie auf einer Mission: einen Rabbi finden, um seinen Sohn zu beerdigen. Auch Iris wird auf eine Mission geschickt, aber was oder wem genau sie gilt, das bleibt lange Zeit unklar. Hauptfigur und Film starten mit einem Geheimnis, das sie nur langsam preisgeben.

Die Protagonistin wird durch die Stadt gelenkt und muss ein Rätsel nach dem anderen lösen

Nemes, einer der technisch brillantesten Regisseure des Gegenwartskinos, spielt dabei raffiniert mit der Protagonistin wie mit dem Zuschauer. "Spielen" ist wörtlich zu verstehen: Iris ist weniger die Figur eines Historienfilms als eines Videospiels, durch das sie von Nemes gesteuert wird wie durch eine fremde Welt. Wie schon in "Son of Saul" bleibt die Kamera ganz nah bei ihr, wir sehen die Welt mit ihrem Blick - Iris, das ist nicht umsonst auch der Name der Regenbogenhaut im Auge. Wenn Iris geht, ist der Bereich um sie herum akzentuiert und scharf, während der sich entfernende Hintergrund ins Unscharfe und Irreale zurückfällt. Ebenso geht es mit der Tonspur, die man in einer vergleichbar subtilen Ausarbeitung sonst nur in Filmen von Alexander Sokurow findet: Die Welt ist ein lebendiger Humus aus Tönen und Stimmen, die sich stets überlagern, einige sind ohrenbetäubend nah, andere ganz fern. Der Ton markiert ebenso den konkreten Ort, an dem Iris sich aufhält, wie er auch hochgradig desorientierend wirkt: Um sie herum versinkt alles in lärmendem Chaos.

So wird Iris durch Budapest gelenkt und muss aus den Versatzstücken, die sie erfährt, ihre Schlüsse ziehen, ein Rätsel nach dem anderen lösen, als würde sie selbst erst herausfinden müssen, worin genau ihre Aufgabe in diesem Film besteht. Da ist der Verrückte, der in der ersten Nacht in ihrer Pension einsteigt, sie zu ihrem "Bruder" bringen will - Iris wusste nicht mal, dass sie einen Bruder hat, macht sich aber daraufhin auf die Suche nach ihm. Da ist Geschichte vom grausam zerstückelten Grafen, der seine Frau misshandelt hat, wovon noch heute die Striemen auf ihrem Rücken zeugen. Da sind die kaiserlichen Abgesandten, die im Budapester Hutladen junge Mädchen für bizarre Rituale am Wiener Hof rekrutieren wollen. Und da ist die Bande von "Terroristen", die in den Wäldern vor der Stadt lauert und alles in Brand setzen will.

"Son of Saul" spielte in Auschwitz, die Hauptfigur bewegte sich in einer mörderischen Umgebung. Feindlich ist auf andere Weise für Iris auch das Budapest von 1910. Von Anfang an ist klar: Sie kann sich auf niemanden verlassen. Nicht auf die Outlaws, nicht auf ihren Chef im Hutkaufhaus, nicht auf ihre Kolleginnen. Allianzen sind notwendig, aber dauern nie länger als einen kurzen Moment, bevor sie wieder zerbrechen und Iris nach neuen Verbündeten suchen muss. Man rät ihr zu gehen, versucht, sie zurück nach Triest zu schicken. "Sunset" ist ein beklemmender Film über einen Fremdkörper - einen Körper in einer Umgebung, die ihn ohne Unterlass wieder abzustoßen versucht.

Irgendwann sagt ihr jemand: "Der Schrecken der Welt verbirgt sich unter diesen wunderschönen Dingen"; gemeint sind: die Hüte. Was lässt Iris in Budapest bleiben? Der sture Wille, der von keinem Lächeln je getrübt wird, das ganze Maß des Schreckens aufzudecken, das unter all den schönen "Dingen", den Hüten und Kostümen dieses Historienfilms lauert. Dieser Schrecken betrifft ebenso die Vergangenheit und die Gegenwart wie die Zukunft. In "Son of Saul" klang jeder Satz auf Deutsch wie ein Peitschenhieb; im polyglotten k. u. k. Vielvölkerstaat von "Sunset" wird der Klang des Deutschen auf einer noch tieferen Schicht der Erinnerung und der Geschichte bereits zum Vorboten kommender Gräuel. "Blut wird fließen", so raunt jemand Iris zu, "noch diese Woche." Ähnlich wie Michael Hanekes "Das weiße Band" zeigt "Sunset" eine Welt am Vorabend des Ersten Weltkrieges, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Eine Welt bei Sonnenuntergang, kurz davor, in dunkelster Nacht zu versinken.

Sunset, Ungarn / Frankreich, 2018. Regie: László Nemes. Buch: Nemes, Clara Royer, Matthieu Taponier. Kamera: Mátyás Erdély. Mit: Juli Jakab, Susanne Wuest, Vlad Ivanov. MFA, 142 Min.

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Quelle:
SZ vom 13.06.2019
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