"Summer of Soul" auf Disney+:Hellwach in Harlem

Lesezeit: 4 Min.

Einige Künstler, die damals im Mount Morris Park spielen, erzählen im Film vom Erlebnis, von der Bühne aus in 50 000 schwarze Gesichter zu blicken. (Foto: Mass Distraction Media/Disney/Searchlight)

Nina Simone, Stevie Wonder und Aufrufe zur Revolution: Eine brillante Festival-Doku über das "schwarze Woodstock" 1969 in New York City zeigt einen großen musikalischen - und politischen Moment.

Von Andrian Kreye

Es gibt in der Festival-Doku "Summer of Soul (...Or, When the Revolution Could Not Be Televised)" genügend Gänsehautmomente, um es zu bedauern, dass der Film in Deutschland erst einmal nur im Stream zu sehen ist. Wenn beispielsweise Nina Simone an den Flügel auf der Bühne im Mount Morris Park tritt, mitten im New Yorker Schwarzenviertel, in dem sich in jenem Sommer 1969 an jedem der sechs Wochenenden des Harlem Cultural Festivals um die 50 000 Menschen auf den Hügeln und Wiesen versammelten. Wenn sie das Grundschema ihres "Backlash Blues" mit einem Akkord beendet, der sekundenlang nachdonnert und sehr deutlich macht: Miss Simone ist hier, und sie lässt sich heute Abend nichts gefallen. Oder wenn sich Stevie Wonder am Clavinet in eine Ekstase der Funkmotive steigert, die die Kraft des Gospel aus der Spiritualität in die Weltlichkeit holt. Oder wenn der Gitarrist Sonny Sharrock die gesamte Wut und den gesamten Schmerz dessen, was sie in Amerika "the black experience" nennen, in einen Ausbruch freier Akkordsplitter packt.

Wobei The Summer of Soul kein Konzertfilm ist, so wie "Woodstock", auch wenn das Pressematerial vom "schwarzen Woodstock" spricht. Die historischen Parallelen gibt es ja. Im selben Sommer veranstaltete ein Haufen halbgeschäftstüchtiger Hippies das Woodstock-Festival, das später in Amerika jener Generation ihren Namen gab, die in Europa als die 68er in die Geschichte eingingen. Dort gab auf einer Wiese beim Dorf Bethel die Rockmusik ihr Debüt im Blick der breiten Öffentlichkeit, jener Soundtrack der Jugend- und Protestbewegung, der bis dahin noch Gegenkultur war.

Nine Simone bei ihrem Festival-Auftritt. (Foto: Mass Distraction Media/Disney/Searchlight)

Das Harlem Cultural Festival war zwar weitaus besser organisiert. Allerdings interessierten sich nur ein paar Lokalsender dafür. Und im Gegensatz zu Michael Wadleighs Doku "Woodstock", die zum Klassiker ihres Genres wurde, versandete die Produktion der Harlem-Doku von Hal Tulchin in der gescheiterten Finanzierung der Postproduktion. Und so lagerten rund 40 Stunden Filmmaterial jahrzehntelang im Keller des Filmemachers, der 2017 verstarb.

In diesem Wendesommer manifestierte sich das neue schwarze Selbstbewusstsein auf und vor der Bühne

Der Schlagzeuger, Musikproduzent und in Amerika vor allem als Chef der Studiokapelle des Showmasters Jimmy Fallon bekannte Ahmir "Questlove" Thompson verarbeitete das Material nun zu dieser fast zweistündigen Doku. Bei einer Pressekonferenz neulich wirkte er ein wenig wie ein Archäologe, der in einer Pyramide die Schriftrolle gefunden hat, die nun so einige Rätsel der Antike lösen wird. Was dieses Festival damals bedeutete, und was dieser Film nun noch einmal deutlich macht, bringt ein Zeitzeuge, der damals beim Festival war, gleich zu Beginn auf den Punkt: "Das war der Moment an dem 'Schwarz' geboren wurde." Ein anderer Festivalbesucher war damals noch ein Schulbub und erinnert sich, dass das, was ihm am eindrücklichsten im Gedächtnis blieb, die Tatsache war, dass er noch nie in seinem Leben so viele Schwarze an einem Ort gesehen hatte.

Questlove gibt dem Publikum eine tragende Rolle im Film. Die zweite Hauptrolle spielt auch nicht die Musik, sondern der historische Kontext. Mit brillantem Gespür für den Rhythmus im Schnitt verwebt der Film historische Aufnahmen und Interviews mit Zeitzeugen in die Festivalauftritte. Grandioses Fundstück ist die Meinungsumfrage, die ein Fernsehreporter am 20. Juli mit den Festivalgästen durchführte. An dem Tag landete die Nasa-Mission Apollo 11 auf dem Mond. Im Mount Morris Park aber spielten Stevie Wonder, David Ruffin und Gladys Knight & the Pips. Das war der Hochadel des Motown-Labels, der damals gegen den Widerstand des Labelchefs sein politisches Bewusstsein auch auf die Bühnen trug. Das Publikum aber scheint sich sehr einig, wenn der Reporter fragt, ob sie die Mondlandung denn nicht beeindruckt. Sie bleiben recht höflich, aber das Fazit ist einstimmig: Warum die Regierung denn drei Männer auf den Mond schickt, anstatt sich um die Probleme auf diesem Planeten zu kümmern? Es gäbe ja wirklich genügend Leute, die dringend Hilfe bräuchten.

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Was sich überhaupt durch den ganzen Film zieht, ist ein sehr waches politisches Bewusstsein, das sie in Amerika heute "woke" nennen. So könnte man vielleicht auch die beiden Sommerfestivalfilme vergleichen. Schließlich ist das Gegenteil von "woke" im Amerikanischen "sleeping". Und das ist auch der Unterschied zwischen "Woodstock" und "Summer of Soul". "Woodstock" ist ein wirklich phänomenaler Konzertfilm, der das politische Moment der Jugend von 1969 auf ein paar Fußnoten wie Country Joe McDonalds "Gimme an F..." oder Jimi Hendrix' Dekonstruktion der Nationalhymne auf seiner übersteuerten Stratocaster-Gitarre reduzierte. Und ja, man könnte den Film auch im Halbschlaf anschauen und hätte immer noch alles verstanden.

Nina Simone legt ein Maximum an lodernder Wut in ihren Auftritt

"Summer of Soul" lässt nicht locker. Der Untertitel spielt ganz direkt auf Gil Scott-Herons Schlüsselsong der schwarzen Protestbewegung "The Revolution will not be televised" an. Immer wieder analysiert Questlove diesen Wendesommer, an dem sich das neue schwarze Selbstbewusstsein am Ende des Bürgerrechtskampfjahrzehnts in der Musik, in der Lyrik, in der Mode, im Aktivismus und in der Körpersprache der Menschen auf und vor der Bühne manifestierte.

Man hört und sieht es den Musikern an, dass sie diesen Moment damals sehr gut begriffen. Einige von ihnen wie Mavis Staples, Gladys Knight oder Stevie Wonder erzählen im Film dann auch, was für ein unfassbares Erlebnis es damals war, von der Bühne aus in 50 000 schwarze Gesichter zu blicken.

Höhepunkt ist schließlich Nina Simone, die ein Maximum an lodernder Wut in ihren Auftritt legt. Schließlich verliest sie das "Are You Ready Black People" von David Nelson von den Last Poets, das nichts anders ist als ein Aufruf zum bewaffneten und unbedingten Widerstand.

Mag sein, dass die Gänsehautmomente zahlreicher gewesen wären, wenn der Film die Auftritte ohne Unterbrechung gezeigt und den Groove der Zuschauenden nicht ständig auf die politische Schiene gelenkt hätte. Er wäre dem Sommer 1969 aber nicht gerecht geworden. So wird "Summer of Soul" das Dokument eines Augenblicks der Musikgeschichte bleiben, der so viel größer als der Pop war und deswegen auch so viel mehr erreichte.

Summer of Soul (...Or, When the Revolution Could Not Be Televised) - USA, 2021. Regie: Ahmir "Questlove" Thompson. Kamera: Shawn Peters. Schnitt: Joshua L. Pearson. Mit: Nina Simone, Glady Knight, Stevie Wonder, The Staple Singers, Sly & the Family Stone, Ray Barretto, Hugh Masekela. Disney, 117 Minuten.

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