Suhrkamp wird 70:Der Geist und das Geistige

Suhrkamp Verlag in Berlin

Im Herbst 1950 erschienen die ersten Bücher im Suhrkamp-Verlag.

(Foto: dpa)

Vor siebzig Jahren wurde der Suhrkamp-Verlag gegründet. Erst jetzt veröffentlichte Essays des Gründers und ersten Verlegers Peter Suhrkamp zeigen die Anfangszeit in neuem Licht.

Von Lothar Müller

Die Gründung des Suhrkamp-Verlags am 1. Juli 1950 in Frankfurt am Main ist, in ihrem Kern, ein trauriges Ereignis. Die Erfolgsgeschichte, die damit begann, kann die Zerreißspannungen, Verletzungen und die Kollision von Lebenserfahrungen nicht überdecken, die in diese Gründung eingingen. Sie entstammten einer prägenden Konstellation der Nachkriegszeit, dem Aufeinandertreffen der in Deutschland gebliebenen Autoren und Verleger mit den Heimkehrern aus dem Exil.

Peter Suhrkamp, der mit ihr seinen eigenen Verlag etablierte, war 1932 in den S.-Fischer-Verlag eingetreten, hatte mit Beginn des Jahres 1933 die Redaktion der Hauszeitschrift "Neue Rundschau" übernommen und dann gemeinsam mit Gottfried Bermann Fischer, dem Schwiegersohn des Verlagsgründers Samuel Fischer, den Verlag geleitet. Als Bermann Fischer mit seiner Familie im Frühjahr 1936 ins Exil ging, schied er aus dem Verlag aus und Peter Suhrkamp übernahm die alleinige Geschäftsführung, während Bermann-Fischer mit einem Teil der Autoren und Rechte seinen eigenen Exilverlag zunächst mit Sitz in Wien, dann in Stockholm und in den Vereinigten Staaten gründete. Als "Treuhänderschaft" hatte Peter Suhrkamp die Fortführung des Mutterverlags verstanden, der nun "Suhrkamp Verlag vorm. S. Fischer" hieß. Als die nationalsozialistischen Behörden 1942 die Tilgung des Namens "S. Fischer" und damit der Erinnerung an den jüdischen Verlagsgründer verlangten, fügte sich Peter Suhrkamp nur mit äußerstem Widerstreben. Er war nun der alleinige persönlich haftende Gesellschafter einer Kommanditgesellschaft, "Suhrkamp Verlag KG Berlin" hieß.

Zwei Ansprüche trafen aufeinander, als der aus dem Exil zurückgekehrte Gottfried Bermann Fischer und Peter Suhrkamp über die Zukunft ihrer beider Verlage zu verhandeln begannen. Auf der einen Seite der Anspruch auf Rückübertragung des in Deutschland verbliebenen Stammhauses, auf der anderen Seite der Anspruch, den Peter Suhrkamp sich durch seine "Treuhänderschaft", die Fortführung des Verlages unter schwierigsten Bedingungen erworben zu haben glaubte.

Noch lebte im Übrigen Hedwig Fischer, die Witwe des Verlagsgründers Samuel Fischer. Als es Ende 1949/Anfang 1950 zum Zerwürfnis zwischen Gottfried Bermann Fischer und Peter Suhrkamp kam, hatte sie eine Rückerstattungsklage gegen Suhrkamp eingereicht. Die Einigung, die Ende April 1950 erreicht wurde, machte den Weg frei zur Gründung des Suhrkamp-Verlags. Sie sah vor, dass der deutsche Verlag, der ab 1946 eine Filiale in Frankfurt am Main unterhielt, an Bermann Fischer zurückfiel, die von Suhrkamp betreuten Autoren aber selbst entscheiden konnten, welchem der beiden Verklage sie ihre Rechte übertragen wollten. 33 der 48 befragten Autoren entschieden sich für Suhrkamp, darunter Hermann Hesse und Bertolt Brecht, George Bernard Shaw und Max Frisch. Schon im Herbst 1950 erschienen die ersten Bücher im Suhrkamp-Verlag, Max Frischs "Tagebuch 1946-1949", Essays von T.S. Eliot, eine einbändige Ausgabe von Hermann Hesses "Glasperlenspiel", Walter Benjamins "Berliner Kindheit um 1900".

Peter Suhrkamp auf dem Balkon des Hauses Schaumainkai 53, Frankfurt am Main, Sitz des Suhrkamp Verlags zwischen 1953 und 1956

Zu seinem Verständnis des Geistigen gehörte das Misstrauen gegen alle ephemere, der Aktualität verhafteten Literatur: Peter Suhrkamp auf dem Balkon des Hauses Schaumainkai 53 in Frankfurt am Main.

(Foto: Suhrkamp Verlag)

Auf eine Idee des jüngst verstorbenen Suhrkamp-Lektors Raimund Fellinger geht das Buch zurück, das tiefe Einblicke in Peter Suhrkamps "Treuhänderschaft" für den alten S.-Fischer-Verlag seit 1936 ermöglicht, der 2016 erschienene, von Wolfgang Schopf, dem Leiter des Literaturarchivs der Frankfurter Goethe-Universität, sorgfältig kommentierte Briefwechsel zwischen ihm und seiner Frau Annemarie Seidel von 1935 bis zu seinem Tod im Jahr 1959. Dass die Verlagsgründung am 1. Juli 1950 für die Beteiligten trotz der Einigung, die ihr vorausging, ein trauriges Ereignis war, zeigt ein Brief Peter Suhrkamps vom15. Juli 1951.

Er lebt zu dieser Zeit bereits getrennt von seiner Frau, in wechselnden Pensionen und ist mit einem Begleiter auf Quartiersuche in Königstein: "Als wir in einer Pension rasteten, wurde durch eine Krankenschwester eine weiße, zitternde alte Frau, ein Gespenst, das kaum gehen konnte, hereingeführt. Ich dachte, als ich sie sah, im Moment an Frau Fischer. Als wir uns später oben Zimmer ansahen, kam die Schwester und fragte nach mir. Unten war mein Name genannt worden. Ich sagte der Schwester, sie möchte Frau Fischer sagen, es wäre eine Verwechslung gewesen. Es wäre nicht gut, wenn sie mit mir sprechen würde, nicht gut für sie und für mich." Es gibt keinerlei Belege für einen Aufenthalt von Hedwig Fischer, der Witwe Samuel Fischers, in der Königsteiner Pension. Sie hatte noch bis 1939 in der Fischer-Villa im Grunewald gelebt, war aus dem amerikanischen Exil nach Frankfurt am Main zurückgekehrt und starb im Folgejahr 1952.

Das Intellektuelle war ihm verdächtig, ebenso das Unverbindliche, Ästhetische

Zur jüngeren Geschichte des Suhrkamp-Verlags gehört die Verschiebung des Fokus seiner öffentlichen Wahrnehmung auf die Ära von Siegfried Unseld, der nach dem Tod Peter Suhrkamps im Jahr 1959 sein Nachfolger wurde, auf die viel beschworene "Suhrkamp culture" seit den Sechzigerjahren, auf die "edition suhrkamp" und das Kursbuch, Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger, Thomas Bernhard und Peter Handke, auf die Durchdringung von ästhetischer Moderne und Heimkehrern aus dem Exil wie Theodor W. Adorno und Ernst Bloch oder dauerhaft Emigrierten wie Siegfried Kracauer. Die Ursprungskonstellation ist demgegenüber verblasst, und so ist es sehr willkommen, dass der Suhrkamp nun zu seinem 70. Geburtstag eine Auswahl aus den Essays von Peter Suhrkamp vorlegt, die manches Bekannte wie den "Brief an einen Heimkehrer" aus dem "Taschenbuch für junge Menschen" (1946) enthält, aber auch viele bisher unpublizierte Manuskripte, in denen sich die Umrisse seiner intellektuellen Physiognomie zusammenfügen. Einen solchen Begriff aber hätte Peter Suhrkamp nie benutzt, das Intellektuelle war ihm eher verdächtig, ebenso die "Abirrung des Geistigen ins Unverbindliche, ins Ästhetische". Wenn es ein Schlüsselwort gibt, das alle hier versammelten Texte durchzieht, vom Aufsatz über Paul Claudels "Die Verkündigung" im Jahr 1919 bis hin zum Offenen Brief an den Bundesaußenminister von Brentano, der sich durch die späte Lyrik Bertolt Brechts an Horst Wessel erinnert fühlte, im Mai 1957 in der Münchner Abendzeitung, dann ist es dieses: der Geist, das Geistige.

Das hat mit der Herkunft Peter Suhrkamps zu tun, der Lebensgeschichte des 1891 geborenen Bauernsohns aus dem Oldenburgischen, der zur Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg stieß, ehe er in diesem Krieg Frontsoldat wurde und traumatisiert zurückkehrte. Es ist in seinen frühen Schriften nicht weit vom Wort "Geist" zum Ausbruch aus der Herkunftswelt, zu den "Gemeinschaften" der Jugend, in denen das Leben nach neuen Formen sucht, ehe diese Suchbewegungen in der Nachkriegszeit den "Ideologen" anheimfallen. Immer wieder kommt Suhrkamp auf die Jugendbewegung, auf seine Zeit als Lehrer an der Odenwaldschule und der Freien Schulgemeinde in Wickersdorf. Und wenn er zu Beginn der Zwanzigerjahre beschreibt, wie der Geist der "Kammerspiele" und ihrer Suche nach neuen Theaterformen nach dem Weltkrieg in die großen Bühnen eingewandert ist, heißt es apodiktisch: "Die besten Theater sind heute fanatische Gemeinschaften mit religiösem Glauben an ihre Sendung."

In diese Aufbruchswelt gehörte für ihn Bertolt Brecht, den er 1919 kennenlernte, den er in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933, der Nacht des Reichstagsbrands, beherbergte, als er mit Helene Weigel ins Exil flüchtete. Der Geist und das Geistige aber, von bloßer Bildung strenge geschieden, blieb ihm, anders als Brecht, immer mit dem Tiefen, dem Wesen, dem Schicksal, dem inneren Aufbau und Zusammenhalt der Person und nicht zuletzt mit dem "Abendland" verbunden. Davon handeln in diesem Buch nicht zuletzt die vielen autobiografischen Passagen, in denen Suhrkamp auf seine Zeit in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen und den Gestapo-Gefängnissen blickt. Im April 1944 war er nach einer Spitzel-Intrige verhaftete worden, nur wenige Monate vor dem 2o. Juli und darauf folgenden heftigen Repressionswelle, der sich einer seiner besten Freunde, Wilhelm Ahlmann durch Selbstmord entzog. Erst im Februar 1945 wurde er entlassen, wohl nicht zuletzt auf Fürsprache von Arno Breker.

Nach dem Krieg schrieb er darüber, wie seine Kafka-Lektüre der Zwanzigerjahre durch das Leben im Nationalsozialismus verändert wurde, wie sie ihm nun als Vorgriff auf das Kommende erschien. Auch darum bemühte er sich um die Rechte an Kafka, die aber an Fischer fielen. Er konnte nicht wissen, dass im Frühjahr 1944, als er in die Männerabteilung des Konzentrationslagers Ravensbrück eingeliefert wurde, im Frauenlager Milena Jesenska starb, die Freundin Kafkas. Im Lager entstand Suhrkamps Essay über Goethes "Wahlverwandtschaften", in dem er zu Recht der kultivierten Fassade der hingebungsvollen Landschaftsgärtner nicht traut: "Als hätte Goethe den heutigen Weltzustand vorausgesehen. Und diese Ironie: eine Gesellschaft, die zum Gehalt ihres Lebens die Zivilisation gemacht, sie auf ihren Hausaltar gestellt hat, betreibt den Zusammenbruch der Zivilisation!"

Adorno wurde ihm zum Freund, Brecht ist es immer geblieben

Im Titelessay des Bandes "Über das Verhalten in der Gefahr", der 1939 in der "Neuen Rundschau" erschien, sind die Aporien der Situation Peter Suhrkamps, der das Erbe des Fischer-Verlages fortführen wollte, dafür aber weitreichende Rücksichten auf die Reichsschrifttumskammer und die immer engeren Grenzen der NS-Kulturpolitik nehmen musste, im Bild der Gefahrenzonen eines potenziellen Schlachtgeländes festgehalten, im allegorischen Dialog mit Ernst Jüngers "Auf den Marmorklippen". 1944 wurde die "Neue Rundschau" eingestellt. Als Selbstbehauptung des "Treuhänders" lässt sich der Text Suhrkamps über die von 1945 bis 1948 im Exilverlag in Stockholm herausgegebene Fortsetzung der Zeitschrift lesen.

In der "Zueignung", mit der Bermann-Fischer das Heft zum 70. Geburtstag von Thomas Mann eröffnet hatte, hieß es über den 1934 verstorbenen Verlagsgründer Samuel Fischer, der die Zeitschrift ins Leben gerufen hatte: "Er hat es nicht mehr erlebt, wie sie in fremden Händen langsam den Geist, seinen Geist, aufgab." Das musste Peter Suhrkamp als Provokation empfinden. Hatte er nicht seine Treuhänderschaft und seine Treue zum Geist, wie er ihn verstand, durch Gefängnis- und Lagerhaft beglaubigt, aus der er als kranker Mann zurückgekehrt war?

Zu Peter Suhrkamps Verständnis des Geistes und des Geistigen gehörte, wie sich hier vor allem in den Texten über das Lesen und den Umgang mit Bibliotheken zeigt, das Misstrauen gegen alle ephemeren, dem Augenblick, der Aktualität verhaftete Literatur. Das schloss die Skepsis gegen die Zeitungsleküre als einer minderen Form des Lesens ein. Und führte dazu, dass er Taschenbücher allenfalls duldete, nicht aber als strategisches Medium sah wie Gottfried Bermann Fischer - und Siegfried Unseld. Was aber die Autoren betraf, mit denen Peter Suhrkamp seinen Verlag startete, so gehörten zwar Theodor W. Adorno, der ihm Freund wurde, und Bertolt Brecht, der es immer blieb, von Beginn an dazu, ebenso aber Rudolf Alexander Schröder oder Hermann Kasack, die wie er in Deutschland geblieben waren.

Das ambitionierteste Projekt der frühen Jahre war die veränderte Wiederauflage der zweibändigen Anthologie "Deutscher Geist" im Jahr 1953, deren Originalausgabe der S. Fischer-Lektor Oskar Loerke gemeinsam mit Peter Suhrkamp 1940 herausgebracht hatte. Rudolf Borchardt und Rudolf Alexander Schröder stehen darin neben Thomas Mann und Walter Benjamin. Wie sehr Peter Suhrkamp die "Nivellierung" des deutschen Geistes fürchtete, zeigt sein Vorwort zur Neuauflage, die nun auch Texte von Heinrich Heine, Karl Marx und Sigmund Freud enthielt: "Vor fünfzehn Jahren waren starke Mächte am Werk, das Bild zu verfälschen - heute bergen die Sorgen der Gegenwart, ihre Flüchtigkeit und nivellierenden Tendenzen die Gefahr, die musische Kraft, ihre Formen und ihre Ordnung vergessen zu machen oder gar zu zerstören." Das kam aus tiefstem Herzen, war aber eine fragwürdige Analogie.

Peter Suhrkamp: Über das Verhalten in der Gefahr. Essays. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Raimund Fellinger und Jonathan Landgrebe. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 420 Seiten, Euro.

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