Süskind über Sempé:Das Geheimnis der Porreestange

Wie das Wohlgefügte aus dem Lot gerät: Über den leisen Witz und die tiefe Melancholie der Zeichnungen von Jean-Jacques Sempé.

Patrick Süskind

In der Bayerischen Staatsbibliothek in München hat am vergangenen Freitag die Ausstellung "Tag für Tag" mit 150 Zeichnungen von Jean-Jacques Sempé eröffnet (bis zum 8. August). Aus diesem Anlass hat der Schriftsteller Patrick Süskind ("Das Parfum") einen Essay verfasst. Er ist soeben als Vorwort zu Sempés Band "Tag für Tag" erschienen (© 2009 Diogenes Verlag AG, Zürich).

Süskind über Sempé: Bei jeder Gelegenheit kann es einem passieren. Plötzlich durchzuckt einen dieser kleine Stromschlag: Das ist wie bei Sempé!

Bei jeder Gelegenheit kann es einem passieren. Plötzlich durchzuckt einen dieser kleine Stromschlag: Das ist wie bei Sempé!

(Foto: Zeichnung von Jean-Jacques Sempé)

Da erzählt neulich jemand von einem chinesischen Roman mit dem Titel Die umzingelte Festung, wobei mit der Festung nicht nur das Reich der Mitte, sondern vor allem die Ehe gemeint sei, ein Vergleich, der auf Montaigne zurückgehe, der von ihr gesagt habe: "Wenn man draußen ist, will man hinein, wenn man drinnen ist, will man hinaus." Dieser Roman stamme von einem Autor namens Soundso und sei das Bedeutendste, was je über China . . . - aber da höre ich schon längst nicht mehr zu, sondern gehe wie in Trance zum Bücherregal, unterste Reihe, wo die großen Formate stehen, ziehe die Alben von Sempé heraus, setze mich auf den Boden und beginne zu suchen.

Nach einer halben Stunde, endlich, habe ich gefunden, woran ich mich zu erinnern glaubte, einen Band mit dem Titel Halb gewonnen, Seite 41: eine großformatige Tuschzeichnung, rechts eine enorme mittelalterliche Festung, Typ Carcassonne, links das weite Land mit vereinzelten Olivenbäumen, dazwischen, minutiös ausgeführt, das Heer der Belagerer mit Lanzen, Schilden, Leitern, Katapulten, Rammböcken und einem Federbusch am Hut des berittenen Kommandeurs. Durch ein Bogenfenster sieht man in den Burgfried hinein, wo der mürrische Burgherr nebst Gattin, Hofnarr und Hauskatze beim opulenten Mittagessen sitzt. Ein Emissär, der offenbar soeben vom Feind zurückgekehrt ist, steht vor ihm stramm und übermittelt die Botschaft: "Was sie wollen, ist ganz einfach. Sie sähen es gern, wenn sie hier drinnen wären und wir draußen."

Gewiss, das hat nur sehr partiell etwas mit dem chinesischen Roman zu tun, ist aber ein typisches Beispiel dafür, wie unauslöschlich manche Bilder aus Sempés Kosmos demjenigen eingeprägt sind, der sie einmal, und sei es vor Jahren oder Jahrzehnten, angeschaut, gelesen, dechiffriert hat, wie jäh sie wieder im Gedächtnis hervortreten und wie obsessiv sie verlangen, abermals angeschaut zu werden, weil man sich von ihnen die Steigerung dessen erwartet, was man soeben erlebt, gesehen, gehört hat. Bei jeder Gelegenheit kann einem so etwas passieren: im Flugzeug, wenn einem das plastifizierte Essen serviert wird; beim Herumlungern auf einer öden Party; beim Durchstreifen eines herbstlichen Parks; beim Betrachten eines Kronleuchters oder einer Statue oder eines Gemäldes im Museum oder eines Sonntagsmalers am Strand oder der Kinder auf dem Spielplatz. Plötzlich durchzuckt einen dieser kleine Stromschlag: Das ist wie bei Sempé!

Selbst wenn man nur am geöffneten Fenster steht und gedankenverloren hinausschaut auf die Stadt, kann es geschehen, mehr noch, die Situation kann sich geradezu in eine Zeichnung von Sempé verwandeln, man fühlt sich wie jene gefiederte Schimäre, halb Mensch, halb dicker Vogel, die er auf einer Fensterbalustrade hocken lässt, mit einem Blick, der sehnsuchtsvoll und melancholisch in die Ferne geht und dem man gleichwohl ansieht: Nie wird dies sonderbare Wesen, obwohl es Flügel hat, die Krallen lösen und sich hinaus in die große Freiheit stürzen. Der Journalist Claus Heinrich Meyer berichtet sogar - durchaus glaubwürdig -, er habe sich beim Besuch der Würzburger Residenz mit ihrem gigantischen Treppenhaus und den riesigen Gewölben und Portalen nicht mehr als ein authentisches Individuum empfunden, sondern als eine winzige Figur, die von Sempé in die Wirklichkeit hineingezeichnet worden ist.

Aber Gott sei Dank ist die Welt nicht nur wie von Sempé gezeichnet, sondern umgekehrt zeichnet Sempé die Welt, namentlich die französische, auch wie sie an und für sich ist, wie wir sie allerdings nicht sehen würden, wenn er sie nicht so für uns zeichnete, wie er sie eben zeichnet. Ich will damit sagen: Es gibt gewiss keine bessere kulturelle, soziologische und ästhetische Landeskunde Frankreichs als das Œuvre von Sempé.

Wer wissen will, wie es in irgendeinem Pariser Bistro zur Mittagszeit zuging und noch immer zugeht, wer dort verkehrt, was dort gegessen wird (Kaninchen auf Jägerart) und worüber geredet wird (Fußball, Fernsehen, Firma), der braucht nur Sempés Monsieur Lambert zur Hand zu nehmen, und er wird sich am Ende des Bandes selbst als Stammgast fühlen. Die Welt der kleinen Angestellten samt ihren Träumen, das Milieu der Intellektuellen samt ihren Neurosen, die Hektik der Hauptstadt, die weite Leere der Provinz, der sommerliche Wahnsinn an der Côte d'Azur, das Dorffest irgendwo im Süden mit Biertheke, Bühne für die Rockband und Lichtergirlanden zwischen den Platanen, der alte Prunk der Schlösser, der Verfall der Dörfer - all das ist bei Sempé nicht nur zu sehen, sondern beinahe zu erfahren, so sehr gelingt es ihm, uns in seine Bilder hineinzuziehen.

Lesen Sie auf Seite 2, wie aus ein paar Strichen Perfektion wird.

Die Perfektion steckt im Detail

Wäre er deshalb ein Abbildner der Wirklichkeit, eine Art zeichnender Fotograf? Überhaupt nicht. Mit Realismus haben Sempés Bilder nichts zu tun. Die meisten der von ihm gezeichneten Pariser (oder auch New Yorker) Straßenkreuzungen, Gebäude, Plätze, Parks oder Cafés gibt es in der Wirklichkeit nicht, obwohl wir Stein und Bein schwören würden, sie schon einmal gesehen zu haben, und zwar genau so wie von ihm gezeichnet. Das Gleiche gilt für seine Menschen. Sie kommen uns durchaus vertraut, ja natürlich vor, obwohl sie, sei's im Detail oder im Ganzen, oft etwas grotesk Unproportioniertes haben. Sempés Kinder sind klein wie Mäuse und dennoch Kinder, wie wir sie alle kennen (und eben keine Karikaturen von Kindern). Sempés Fahrräder besitzen keine Speichen, und ihre Rahmen sind so dünn wie ein Federstrich. Seine Musiker spielen auf Geigen mit verkehrten Schalllöchern, auf Saxophonen mit verdrehten Mundstücken, auf Trompeten mit vier statt drei Ventilklappen. An seinen Klavieren, so sagte er einmal selbst, stimme nicht viel mehr als die Anordnung der schwarzen Tasten in Zweier- und Dreiergruppen.

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Jedes Detail, sollte man glauben, ist bei Zeichnungen überflüssig. Nicht so bei Sempé.

(Foto: Zeichnung von Jean-Jacques Sempé)

Trotzdem sind die Klaviere, die er zeichnet - in intimen Salons, flankiert von roten Samtvorhängen, einem winzigen Mädchen mit Pferdeschwanz und einer Katze, oder auf offener Bühne als Ungetüm von Konzertflügel, dem sich der befrackte Pianist nähert wie ein Torero dem Stier -, Klaviere schlechthin, so wie seine Musiker, ob im Streichquartett oder in der Bigband, Musiker schlechthin sind. Und wer nicht wüsste oder es vergessen hätte, was Fahrradfahren eigentlich bedeutet - nämlich nicht eine Art der Fortbewegung mit Hilfe eines durch Muskelkraft angetriebenen Fahrzeugs unter Ausnutzung des Drehimpulserhaltungssatzes, sondern eine hochemotionale und psychologisch ausdrucksstarke Tätigkeit des Menschen, die sich zusammensetzt aus Mühsal und Leichtigkeit, Bedrängnis und Freiheit, Angst und triumphalem Glücksgefühl -, der halte sich an Sempés Simple question d'équilibre, eine Hommage an das Fahrrad und dessen Benutzer, die vielleicht seine elegantesten und beschwingtesten Zeichnungen enthält.

Die Illusion von Stimmigkeit in Sempés Bildern entsteht durchs Detail. Ihr großer Reiz aber entsteht durch die raffinierte Mischung und Kontrastierung jener Details - die mit größter Hingabe, beinahe kindlicher Besessenheit und oft in irrwitziger Anzahl ausgetüftelt sind -, mit Partien, wo die souveränste Andeutung vorherrscht. Landschaften, Bäume, Gewässer, aber auch Gesichter, Kleider, Schuhe werden oft nur mit sparsamsten Linien oder Pinselstrichen ausgeführt. Nicht so die Kaffeekanne älterer Bauart aus blauem Porzellan mit aufgesetztem Filterteil, die seitlich auf einem Louis-XVI-Beistelltischchen steht, nebst drei Mokkatassen, Zuckerdose und Silberlöffelchen.

Acht Striche - und fertig ist der Notenständer, perfekt als solcher zu erkennen, jedes weitere Detail, sollte man glauben, ist überflüssig. Nicht so bei Sempé. Er fügt (und zwar unfehlbar) noch eine Flügelschraube hinzu, die realiter eine Höhenverstellung der senkrechten Teleskopstange ermöglicht (obwohl er eine Teleskopstange gar nicht zeichnet), und jene winzige, über der Mitte der oberen Querstange des Pultes hinausragende stilisierte Lyra, die in der Tat bei gewissen Klappnotenständern seit über hundert Jahren als Verzierung und, bei Bedarf, zum Anklemmen eines Lämpchens dient - zwei völlig unnötige Einzelheiten, die aber dem an und für sich banalen Gegenstand zugleich Komik und Würde verleihen und dadurch das Auge des Betrachters ganz ungemein erfreuen.

Von den drei Dutzend mit rührendem Eifer gezeichneten Schraubenschlüsseln in der Werkstatt eines Fahrradhändlers bis hin zum typischen Fensterknauf der Pariser Altstadtwohnungen, der sogenannten Olive, die es an Präzision der Darstellung mit einer technischen Zeichnung aufnehmen könnte (das beherrscht er nämlich auch) - die Liste der Sempé'schen Details ist unerschöpflich, und ich will nur noch eines davon erwähnen, weil es auf unzähligen Sempé-Zeichnungen erscheint, weil es mein Lieblingsdetail ist, und weil es in seiner Bedeutung weit über das hinausgeht, was wir gemeinhin von einem Detail erwarten. Ich meine die Sempé'sche Porreestange.

Eine Porreestange bei Sempé hat meistens zwei oder drei, selten vier und nur in einem einzigen Fall acht sehr vereinzelt wachsende Würzelchen. In Wirklichkeit besitzt eine ordentliche Porreestange mindestens hundert Würzelchen, die pinselhaft dicht beieinanderstehen. Sempés Porreestangen stecken in den Einkaufstaschen oder Fahrradkörben von französischen Hausfrauen, und zwar fast immer kopfüber, das heißt mit dem bewurzelten Ende nach oben. Wer je Porree gekauft und in einer Einkaufstasche oder einem Fahrradkorb nach Hause transportiert hat (Sempé gehört gewiss nicht dazu, ich schon), weiß, dass eine solche Art des Verstauens widersinnig, unpraktisch, ja beinahe unmöglich ist, da sich die Blätter des Gemüses nach oben hin spreizen und folglich dem verkehrten Einführen in ein Behältnis widersetzen.

Es wäre, als wollte man einen Weihnachtsbaum von der Spitze her in sein Transportnetz zwängen oder einen aufgefächerten Blumenstrauß kopfüber in eine Vase stopfen. Sempé schert sich nicht darum. Seit einem halben Jahrhundert zeichnet er Porreestangen mit zwei oder drei vertrockneten Würzelchen, die falsch herum in der Einkaufstasche stecken. Nun gibt es dafür freilich eine technische Erklärung, die auch dem Drehbuchschreiber und dem Regisseur geläufig ist: Die Porreestange hat kraft ihrer herausragenden Länge als einziges Gemüse die Fähigkeit, den Betrachter auf rein visuelle Weise darüber aufzuklären, dass die Hausfrau, aus deren Tasche sie hervorlugt, soeben vom Markt kommt, wo sie fürs Mittag- oder Abendessen eingekauft hat. Und verkehrt herum steckt sie in der Tasche, weil sie sonst als Porreestange nicht mehr zu erkennen wäre, sondern, beispielsweise, mit einer noch nicht aufgeblühten Gladiole verwechselt werden könnte.

Lesen Sie auf Seite 3, welcher Ruck durch Sempés Zeichnungen geht.

Hintergründig: Angst und Melancholie

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So weit reicht die Spanne von Sempés Bildern: von der kleinen Witzzeichnung bis zum metaphysischen Tableau.

(Foto: Zeichnung von Jean-Jacques Sempé)

Aber das ist nicht das Wesentliche. Sempés Porreestange, selbst wenn sie aus der semantischen Not des Zeichners geboren sein sollte, hat viel weiterreichende Bedeutung. Sie ist ein Signal. Sie sagt: "In den unsichtbaren Tiefen dieser Tasche, aus denen einzig ich mit meinem leicht verdickten und kümmerlich bewurzelten Ende rage, befindet sich noch anderes kümmerliches Gemüse, nämlich, um präzise zu sein, Zwiebeln, Karotten, Kartoffeln, weiße Rüben und das Viertel einer Knolle Sellerie, dazu vielleicht noch ein Stück durchwachsenes Rindfleisch von der Rippe oder ein Suppenhuhn."

Und der Betrachter, der als zweites Signal etwa das Handtäschchen am Arm der Hausfrau und ihr Hütchen über onduliertem Haar erkennt, sieht in Sekundenschnelle den pot-au-feu vor sich, den sie, denn es ist Samstag, ihrem Gatten in weißer Porzellanterrine zum Mittagessen servieren wird, im Salon einer kleinen Pariser Dreizimmeraltbauwohnung mit Zierkamin, Blümchentapete und einem zerrupften Kronleuchter, der von der Stuckdecke hängt. Handelt es sich bei dem komplementären Signal jedoch um ein Kopftuch, das die Hausfrau trägt, so entsteht in unserer Phantasie sogleich das Bild ihrer Souterrainwohnung oder ihres winzigen Häuschens im Dorf und darin vornehmlich der Küche mit den an der Wand aufgehängten Pfannen und Kasserollen, dem Abtropfgestell neben dem Spülstein und, auf einem leicht schmuddeligen Gasherd stehend, dem großen Aluminiumtopf, in dem das erwähnte Gemüse, geschält und in Stücke geschnitten, in zwei Litern Wasser brodelt, um anschließend, durch die blecherne moulinette getrieben, den potage zu ergeben, eine Suppe von rötlichbrauner Färbung und breiiger Konsistenz, die nun ihrerseits wieder eine ganze Kette von Assoziationen privater, aber auch soziologisch bedeutsamer Art auslösen kann.

So viel vermag eine von Sempé gezeichnete Porreestange. Dass sie darüber hinaus komisch ist, erwähne ich zuletzt und beinahe mit Verlegenheit, denn es fällt nicht leicht, diese Komik zu erklären. Wie kann ein Gemüse komisch sein? Gewiss, wenn die deutsche Bundeskanzlerin auf den Stufen des Élyséepalastes vom französischen Staatspräsidenten mit rotem Teppich und republikanischer Garde empfangen würde, und aus ihrer Handtasche lugte eine Porreestange hervor, so wäre diese Szene zweifellos komisch, aber nicht wegen der Porreestange an sich, sondern deshalb, weil sich ein Gegenstand - es könnte genauso gut ein Kochlöffel oder eine Klempnerzange sein - überraschenderweise an einem Ort zeigt, wo er absolut nichts verloren hat. Sempés Porree hingegen befindet sich an einem Ort, wo er durchaus hingehört, nämlich in der Einkaufstasche einer französischen Hausfrau. Und dennoch ist er komisch . . .

Sempés Humor ist von sehr eigener Art. Zwar kennt und meistert auch er die große und grobe Fallhöhe des Grotesken, aber er braucht sie nicht. Er kommt mit subtilerem Gefälle aus. Un léger décalage heißt eines von Sempés Alben, und im Grunde könnte dieser Titel als Motto über seinem ganzen Œuvre stehen: un léger décalage, eine kleine Abweichung, eine leichte Verschiebung, ein geringes Verrückt-Sein. Das Wort cale steckt in dem Begriff, der Keil, und gemeint ist nicht der Keil, der spaltet, sondern der Keil, der eine Sache, ein Möbel etwa oder einen Bilderrahmen, an seinem rechten Platz und in seiner unverrückten Form und Ordnung festhält und dessen Entfernung - décalage - das Wohlgefügte aus dem Lot geraten lässt.

Dieses Verrückt-Sein, oder sagen wir der Einfachheit halber, dieser Ruck, entsteht im Werk von Sempé auf die mannigfaltigste Weise. Schon in seinen frühen Zeichnungen ist er vorhanden, und sei es nur in der Disproportion der Figuren im Verhältnis zu ihrer Umgebung, in der Gegensätzlichkeit von idyllischem Bild und ätzender Bildunterschrift oder in der schon erwähnten fast manischen Hingabe ans scheinbar nebensächliche Detail. Später wird er überaus deutlich, bei den Schimären etwa, oder wenn Gottvater höchstpersönlich in Begleitung seiner Engelein am Vorstadthimmel erscheint. Oder bei jenem Ehepaar, das in der Abendsonne spazieren geht, er groß, sie klein, beide von nichtssagender Durchschnittlichkeit, ein geradezu banales Bild - jedoch: Der Schatten, den er wirft, ist klein, der ihre groß.

Und schließlich gibt es Bilder - vielleicht die schönsten -, da ist der Ruck so unscheinbar, dass man ihn zwar sofort spürt, aber kaum noch, oder erst nach längerer Betrachtung, dingfest machen kann: zwei Starkstrommasten am fernen Horizont und ein winziges Flugzeug am Himmel über einem uralten Bahnwärterhäuschen, vor dem der Bahnwärter geduldig wartet, irgendwo im Nirgendwo der Provinz; drei abgelegte Ringe neben den Tasten des Klaviers, auf dem eine junge Frau spielt; die ganz leicht nach links verschobene Pobacke einer Radfahrerin; die blau kolorierte Mütze eines Kindes in einer ansonsten nur mit schwarzer Tusche ausgeführten Zeichnung; die zwei oder drei Würzelchen am Ende einer Porreestange . . . Es können geringste Verrückungen sein, die Sempés Bilder gleichsam aus dem verkeilten Rahmen der Normalität oder der scheinbaren Harmlosigkeit kippen lassen und ihnen dadurch Komik, leisen Witz oder hinreißenden Charme verleihen.

Übrigens auch tiefe Melancholie und eine Dimension des Schreckens und der Bedrohlichkeit. Denn es ist keineswegs so, dass Sempé allein der Großmeister der Heiterkeit und des schmunzelnden Aperçus wäre. Gewiss, da gibt es Bilder, in denen sich die reine Lebensfreude spiegelt, herrliche Gemälde des Schwelgens in Stille, Sinnenlust und Pracht. Diesen stehen andere gegenüber, die den Hass und die abgrundtiefe Boshaftigkeit des Menschen zum Thema haben, insbesondere, wenn es um das Verhältnis der Geschlechter zueinander geht. Da sehen wir Biedermänner, die ihre Gattinnen auf subtil-sadistische Weise quälen oder gar, zumindest in Gedanken, zertreten und mit dem herabgerissenen Kronleuchter zerschmettern. Und ebenso biedere Damen, die ihren Ehemann wie einen Hund halten. Oder jene bürgerliche Hausfrau, die gerade mit ihrer Freundin in der Küche das Geschirr abspült und dabei durchs Fenster ihrem Mann nachblickt, der weit unten auf der Straße mit seinem Aktenköfferchen ins Büro geht... "Wenn ich ein Gewehr zur Hand hätte", so sagt sie lapidar, "ich könnte ihm glatt die Birne wegschießen."

Bei der Mehrzahl der Bilder, der Bildgeschichten und der Bildromane von Sempé ist aber eher eine hintergründige Angst zu spüren und eine Trauer über die Verlassenheit des Einzelnen und der Paare, über die Brüchigkeit der Welt, in der wir leben, und des Lebens selbst. "Zu Tisch!", ruft gutgelaunt Madame zum Fenster hinaus in die sommerliche Gartenpracht, sie hält die dampfende Suppenterrine in der Hand, der Tisch ist schon gedeckt, die Flasche Wein entkorkt; der aber, den sie ruft, Monsieur, sitzt abseits unter einer Pergola, mit wirrem Haar und gramzerfurchter Stirn, den verzweifelten Blick auf eine Schachpartie geheftet, die er unweigerlich verlieren wird, denn sein Gegner, der ihm gegenübersitzt, im rabenschwarzen Gewand und mit der Sense über der Schulter, ist kein anderer als der Tod.

So weit reicht die Spanne: von der kleinen Witzzeichnung bis zum metaphysischen Tableau. Und in dieser Spanne sind umfangen ein höchst persönlicher, höchst origineller Blick auf die Welt und zugleich eine Chronik von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart von schier Balzac'scher Fülle.

Darum genügt es nicht, ein Album von Sempé rasch im Stehen in der Buchhandlung wie ein Daumenkino durchzublättern - ach wie nett, schau wie lustig! -, nein, man muss es mit nach Hause nehmen, den günstigen Moment abwarten, wo man für eine gute Weile ungestört ist, sich in eine Ecke damit setzen, am besten auf den Boden, und es Seite für Seite anschauen, darin lesen (auch wenn es keinen Text hat) und es langsam dechiffrieren. Was für ein Gewinn, was für ein Vergnügen!

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