Süskind-Portrait:Warum sind die Menschen so aufdringlich?

Als Gymnasiast plante Patrick Süskind einen Bestseller, dann schrieb er "Das Parfum", einen Millionenerfolg. Seitdem inszeniert er sich als Meister der Einsamkeit.

Alexander Kissler

Zu den schönsten Anekdoten aus dem Leben des diskreten Herrn Süskind zählt die folgende: Es war Anfang der sechziger Jahre, nahe am Starnberger See, als zwei Gymnasiasten ihre Zukunft in den Blick nahmen. Der eine der beiden verblüffte mit einem abenteuerlichen Plan. Er, Patrick, wolle später einmal ein Buch schreiben und dann ein Leben lang davon leben. So ist es gekommen. Die Geschichte des Serienmörders Jean-Baptiste Grenouille brachte ihrem Erfinder vermutlich rund 20 Millionen Euro ein. Kein Buch eines deutschen Autors fand weltweit mehr Käufer.

Süskind-Portrait: Patrick Süskind

Patrick Süskind

Früh schon kultivierte Patrick Süskind die Aura des weltentrückten Sonderlings. Gerade vier Interviews und ebenso viele Fotos sind überliefert, und sie alle stammen aus den achtziger Jahren. Gewiss hat die Verrätselungsstrategie dazu beigetragen, das Interesse an seinem schmalen Œuvre wachzuhalten. Andererseits liefert der seit 1991 als Erzähler verstummte Autor selbst zahlreiche Hinweise, weshalb sein Schreiben rasch im Schweigen endete und weshalb er zuvor einen Kosmos schuf aus Figuren, die allesamt Helden der Einsamkeit sind, Meister des Schweigens. Das verbindende Element zwischen der Medienpersönlichkeit Süskind und deren Erfindungen ist ein universales Grundgefühl: die Angst. Die Welt wird vom Standpunkt der Angst aus betrachtet.

Damit war nicht zu rechnen, als der jüngste Spross des SZ-Journalisten, Sprachkritikers und Übersetzers Wilhelm Emanuel Süskind am 26. März 1949 in Seeheim am Starnberger See geboren wurde - und das heißt: hineingeboren wurde in eine großbürgerliche, schöngeistige, etwas steife Welt aus Literatur und Bildungsstolz. Der Vater, enger Jugendfreund von Klaus Mann, berichtete in seinen Feuilletonglossen regelmäßig vom kleinen Patrick.

Fünfzehn Jahre stumm

Die Geburt erfolgte demnach "auf einem Halbjahresband der Wirtschaftszeitung". Der Zehnjährige, der vom Vater erfuhr, dass es auf der Erde mehr Tiere als Menschen gibt, äußert später die Befürchtung, "die Tiere müssten auf die Dauer der Menschen Herr werden. Der Gedanke schien ihn ernstlich zu beunruhigen." Der Elfjährige macht kurzzeitig Kummer in der Schule. Wegen "schlechter Noten und mangelhafter Aufmerksamkeit" wird der Vater einbestellt.

Warum sind die Menschen so aufdringlich?

Die autobiografische "Geschichte von Herrn Sommer" hingegen, als bislang letzte belletristische Arbeit Patrick Süskinds 1991 erschienen, zeichnet ein anderes Bild. Die etwa siebenjährige Hauptfigur will sich von einer Rotfichte hinabstürzen. Ein Ende soll es haben mit der ganzen ungerechten Welt. Zuvor hatte ihn in einer missglückten Klavierstunde der "Angstschweiß" überfallen. Vielleicht hätte der Knabe seine Absicht in die Tat umgesetzt, wäre da nicht zu ebener Erde plötzlich ein Zuschauer erschienen, eben Herr Sommer. Auf ihn blickte der Junge, und er dachte zurück an seine letzte Begegnung mit Maximilian Ernst Ägidius Sommer und an den Eindruck, der sich ihm seither eingebrannt hat: "So sieht einer aus, der Angst hat."

Natürlich wissen wir nicht, ob der siebenjährige Patrick nach einer Klavierstunde tatsächlich sterben wollte, und ob der Zwölfjährige tatsächlich Zeuge wurde des Selbstmords von Herrn Sommer. Wir wissen aber, dass der stumme Herr, womöglich ein Kriegsflüchtling, zu Tode kam und dass der Junge sich zuweilen ähnlich fremd unter den Menschen fühlte. Die Angst verbindet Herrn Sommer mit dem Autor und mit dessen meisten Figuren.

Patrick Süskinds Charaktere nehmen fast alle Reißaus, sie meiden die Menschen. Sie haben Angst vor Enttäuschung, Angst vor Unordnung, Angst vor dem Untergang in der Masse, Angst vor Kontrollverlust. Um "seine Ängste zu bannen", bekennt Süskind, zog er sich während der Dreharbeiten zu "Rossini" in eine italienische Klause zurück. Die Ängste, denen der Schriftsteller dort zu entgehen hoffte, lassen sich deuten als die Ängste des spätmodernen Menschen, die Ängste des ausgehenden 20. und beginnenden 21.Jahrhunderts. Vielleicht ist es ja diese vermittelte Zeitzeugenschaft, die Süskinds postmodernen Fabeln dauerhaft ein derart großes Publikum zuträgt.

Wie aber reagiert man ganz grundsätzlich auf ein solches Übermaß an Angst? Man kann schöpferisch werden und die Angst zwischen Buchdeckel pressen, oder man kann, ganz lebenspraktisch, Situationen meiden, die Unbekanntes und also Unordnung verheißen. Man wird Künstler oder misstrauischer, ursprungstreuer Einzelkämpfer, richtet sich ein im Freundschaftsnetz der Jugend. Patrick Süskind hat beide Optionen gewählt - und seine Figuren mit beiden Verhaltensweisen ausgestattet.

Jonathan Noel, der traumatisierte Wachmann aus der Erzählung "Die Taube" (1987), "mochte Ereignisse nicht." Er igelt sich in einem winzigen möblierten Zimmer ein. "Warum sind die Menschen so aufdringlich", fragt er sich und leitet daraus die Lehre ab, "dass auf die Menschen kein Verlass sei und dass man nur in Frieden leben könne, wenn man sie sich vom Leibe hielt". Als Patrick Süskind 1993 eine Laudatio auf Loriot hält, rühmt er an dessen Kunst, dass es ihr gelinge, "sich die Welt vom Leibe zu halten".

Warum sind die Menschen so aufdringlich?

Das Kunstwerk Duft

Dieser Versuch ist das Lebensprojekt der Figuren, die Süskind sich ausdenkt, und die deshalb - wie auch der verschrobene Musiker in seinem Einakter "Der Kontrabass" und wie auch Süskinds Alter Ego Jakob Windisch in "Rossini" - ihr Dasein in kleinen Räumen verbringen. Dieser Versuch ist auch der Grund, weshalb Süskind schrieb und weshalb er jede Auskunft über sein Schreiben verweigerte. Nur auf solcherart doppelbödige Weise kann es gelingen, der Welt durch Verweigerung verbunden zu bleiben.

Im "Parfum" ringen zwei Ängste miteinander, die Angst des Mörders, sich selbst nie kennenzulernen, und die Angst der Welt vor den Taten eben dieses Mörders. "Das Parfum" ist nicht nur, "Die Geschichte eines Mörders"; es ist auch die Geschichte einer Gesellschaft, die auf Ängsten errichtet ist und deren Künste von dieser Lebensangst ablenken sollen. Leicht überlesen wird das auslösende Moment für die meisten Morde des Jean-Baptiste Grenouille: die "Angst, über sich selbst nicht Bescheid zu wissen."

Gewiss, den ersten Mord am Mädchen mit den Mirabellen, begeht er, um sich deren "prägenden Duft" einzuverleiben. Zehn Jahre später aber wird er in Grasse zur Bestie, tötet 24 Mädchen, weil eine anders nicht zu bändigende Angst ihn überfiel. Er erfuhr eines Nachts in einem Angsttraum: Er kann sich selbst nicht riechen. Er hat keinen eigenen Duft. "Die Angst, über sich selbst nicht Bescheid zu wissen", treibt ihn aus der Höhle nach Grasse, macht aus dem Eremiten einen Massenmörder.

Das Meisterparfum aus dem Duft der Jungfrauen soll ein Mittel sein, sich ganz auszudrücken und endlich zu erfahren, wer um alles in der Welt er sei. Grenouille will über das perfekte Parfum mit der Welt kommunizieren. Das Parfum ist ein Kunstwerk, zu dem sich die Welt verhalten soll. Es ist Kunst, durch die beide Seiten, Künstler wie Publikum, ihre Lebensangst überwinden sollen. Am Tage der geplanten Hinrichtung misslingt aber die erhoffe Kommunikation. Die Menschen, die das Parfum riechen, fallen übereinander her statt dem Meisterparfümeur Huld und Liebe zu erweisen. Darum beschließt Grenouille zu sterben.

Ein solches heillos dramatisches Ende ist für den Autor wohl nicht zu befürchten. Dass er sich vor 15 Jahren - sieht man von der Mitarbeit an den Drehbüchern zu "Rossini" und "Vom Suchen und Finden der Liebe" ab - ins Schweigen zurückzog, dass er seit 20 Jahren keine Interviews mehr gibt, spricht dafür, dass im Leben des Privatiers und Vaters Patrick Süskind die Option Noel den Sieg davon getragen hat. Dieser tritt, nach einer Nacht voller Ängste, morgens "hinaus ins Freie". Dort ist wohl auch der stumme Herr Süskind gelandet.

"Das Parfum" von Patrick Süskind wurde öfter verkauft als jedes andere Buch eines deutschen Autors, es brachte dem Verfasser mehr als 20 Millionen Mark ein. Am 14. September kommt die Geschichte des mordenden Meisterparfümeurs Jean-Baptiste Grenouille in die Kinos, verfilmt von Tom Tykwer, produziert von Bernd Eichinger und mit Ben Whishaw in der Hauptrolle.

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