Stummfilm:Berliner Avantgarde

Stummfilm: Verträumte Blicke am Wannsee zu sphärischen isländischen Klängen - die isländische Band "múm" bei der Arbeit.

Verträumte Blicke am Wannsee zu sphärischen isländischen Klängen - die isländische Band "múm" bei der Arbeit.

(Foto: Jacob Hansen)

In der Versicherungskammer wird die rekonstruierte Fassung von "Menschen am Sonntag" gezeigt. Die isländische Band "múm" spielt live dazu

Von Oliver Hochkeppel

Ein bisschen wirkt es wie ein Vorläufer der "Dogma"-Bewegung der Regisseure Lars von Trier und Thomas Winterberg, was 1929 jugendliche Berliner Filmfreaks, allen voran Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, Billy Wilder und Eugen Schüfftan bei ihrem Film "Menschen am Sonntag" veranstalteten: Gedreht wurde mit einfachsten Mitteln, oft aus der Hand und an Originalschauplätzen. Vier der fünf Hauptdarsteller waren Laien, nur die junge Christl Ehlers hatte ein Jahr zuvor eine Hauptrolle im Märchenfilm "Frau Holle" gespielt, weshalb im Vorspann auch "ein Film ohne Schauspieler" unter dem Filmtitel stand.

Billy Wilders wohl weitestgehend im legendären Künstlertreff, dem "Romanischen Café" entstandenes Skript basierte auf einer "Reportage" von Robert Siodmaks Bruder Curt und ließ den Regisseuren wie den Darstellern Raum für spontane Einfälle. Semidokumentarisch wird gezeigt, wie fünf junge Leute an einem Wochenende in Berlin im Großstadtgetriebe zufällig zueinanderfinden und an den Wannsee fahren. Ein eingefrorener Moment der Alltagsflucht voller Lebenslust, Liebesanbahnung und kleiner Hoffnungen.

Am 4. Februar 1930 kam der Film in die Kinos, von der Ufa mit den erstaunlichen Zeilen "Ein Taxi-Chauffeur, ein Weinreisender, ein Ladenmädel, eine Filmkomparsin und ein Mannequin. Was passiert? Nichts? Nichts passiert" beworben, und machte seine bis dahin unbekannten Macher über Nacht berühmt. Heute gilt "Menschen am Sonntag" als Höhepunkt der Stummfilm-Avantgarde und der "Neuen Sachlichkeit", der nach dem Krieg Filmrichtungen wie den italienischen Neorealismus und die französische Nouvelle Vague inspirierte. Gleichzeitig ist er ein historisches Dokument, das zum einen mit seinen Aufnahmen vom Getümmel am Bahnhof Zoo über die Lebensgewohnheiten der Menschen bis zur Wannsee-Idylle ein seltenes authentisches Bild der einstigen Weltmetropole Berlin zeichnete. Zum anderen auch als Menetekel verstanden werden kann: Flohen doch alle seine Erschaffer vor den Nazis, um dann in Hollywood endgültig Weltstars zu werden. In einer Nebenrolle ist der spätere Schauspieler und Regisseur Kurt Gerron zusehen, der 1944 in Auschwitz ermordet wurde.

Wie bei so manchem frühen Meisterwerk ist das Original verschollen, es gibt nur eine aus in diversen Filmmuseen vorhandenem Material rekonstruierte Fassung. Die ist nun im Foyer der Versicherungskammer Bayern in der bemerkenswerten Konzertreihe von deren Kulturstiftung zu sehen - als Filmkonzert. Die avantgardistische isländische Elektronik-Band múm vertont live den Klassiker, von dem auch kein Original-Score bekannt ist. Er wurde seinerzeit wohl entweder von Stummfilmpianisten begleitet oder mit Marlene-Dietrich-Liedern unterlegt. Jetzt wird er mit sphärisch-nordischen Sounds, verspielter Electronica und experimentellem Indie-Pop mit Improvisationsanteilen in die Gegenwart katapultiert. Über die Berliner Aufführungen schrieb die taz: "Das funktioniert so gut, dass man sich die 74 Minuten auch als Album vorstellen könnte."

Was vielleicht auch daran liegt, dass múm Erfahrung mit Stummfilmvertonungen und sich unter anderem bereits am "Panzerkreuzer Potemkin" versucht hat. 1997 als Quartett gegründet, suchen sich die beiden Tastenleute und Elektroniker Gunnar Örn Tynes und Örvar Smárason inzwischen wechselnde Kollektive für ihre Projekte zusammen. Im Foyer der Bayerischen Versicherungskammer begleitet sie an Schlagzeug und Perkussion der Finne Samuli Kosminen, der auch einer der gefragtesten Produzenten Skandinaviens ist. Bei ihnen wird der Donnerstag bestimmt zum Sonntag.

Múm plays: Menschen am Sonntag, Donnerstag, 29. November, 20 Uhr, Versicherungskammer Bayern, Warngauer Str. 30

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